Die Letzte Liebe Meiner Mutter
des Tages verbringen könnte, ganz und gar nicht, aber eine Stunde würde er so schon durchhalten. Und er konnte um Hilfe rufen, was er zu seiner Überraschung noch nicht getan hatte. Keinen Ton hatte er von sich gegeben. Wollte er gerettet werden, dann sollte er jetzt besser loslegen.
Er rief.
»Mama!«
Er rief noch ein zweites Mal.
Jetzt kam es darauf an, ruhig zu bleiben, nicht in Panik zu geraten. Er musste sich klarmachen, dass die anderen noch ein gutes Stück hinter ihm waren. Erwachsene, die sich trotz ihres vielbeschäftigten Lebens viel zu wenig bewegten. Die Rolltreppengeneration, die sich bei der jährlichen Bergtour masochistisch den Hang hinaufschleppte – der Preis, den man fast schon als Buße entrichtete, um die lahmen Stunden im Fernsehsessel zu sühnen. Bei dieser Exkursion war die Gruppe in Individuen auseinandergebrochen, jeder für sich und mit sich selbst kämpfend, mit seinen Fettröllchen, der Atmung, der schlechten Kondition ganz allgemein. Mit zunehmender Nähe zum Gipfel fühlten sie sich geläutert und legten unterdessen leicht zu brechende Gelübde ab, bis zum Urlaub im nächsten Jahr wirklich mehr für ihre Fitness zu tun. Mit Fug und Recht konnte man sagen: ein per Reisebüro buchbarer Moment der Selbsterforschung. Einmal oben und wieder mit den andern vereint, konnte man wieder ein gutes Glas heben, keine Wunden ohne Balsam, im Moment jedoch konzentrierte sich jeder nur auf sich selbst und seinen Rhythmus.
Eine Uhr hatte Jimmy nicht (sie war ihm zum zwölften Geburtstag versprochen worden, doch wie die Karten nun lagen, müsste ein Wunder geschehen, wollte er den noch erleben), und er hatte darum auch keine Ahnung, wie lange er schon hier stand. Selbst wenn er bedachte, dass aus brenzligen Minuten gefühlte Stunden zu werden pflegten, meinte er doch behaupten zu können, dass er mindestens zehn Minuten, sechshundert volle Sekunden, mit gespreizten Beinen so dastand, an die Bergwand gepresst. Und noch immer war da oben niemand zu hören.
Er rief nochmals, ohne wirklich an einen Erfolg zu glauben.
Als er nach dem x-ten unbeantworteten Ruf, immer panischer eine Fluchtroute suchend, nach oben blickte, sah er Wannes dort stehen.
Stand er schon lange so da?
Hilfsbereit sah er nicht aus. Er schaute zu ihm herunter, amüsiert, triumphierend und ohne ein Wort zu sagen.
Und Jimmy begriff, niemand konnte ihn mehr vom Gegenteil überzeugen: Nur einen Hauch war Wannes jetzt noch vom Ziel seiner Wünsche entfernt, Jimmy bräuchte nur noch zu fallen, und endlich hätte er freie Bahn, seine Traumfamilie zu gründen, mit eigenen Nachkommen, einer eigenen, geschichtslosen Frau und nichts und niemand sonst. Nichts konnte die Flecken aus der Vergangenheit leichter entfernen als ein tragischer Unfall von Jimmy. Ein paar Krokodilstränen zur Show, und Wannes konnte ein unbelastetes Liebesleben beginnen, von Grund auf neu, mit einer Frau, die von der Trauer nur noch etwas geschwächt war. Und falls Jimmy sich doch aus dieser bedrängten Situation befreien könnte, würde Wannes einfach die nächste Gelegenheit nutzen. Dass dieser Mann von dem Tag träumte, an dem er sich des Jungen entledigen konnte, war jetzt sonnenklar.
»Auf einmal bin ich dir gut genug, was?«, sagte Wannes ganz ruhig.
( Wo blieben denn nur die anderen? )
»Ich hab dich schon einmal aus der Scheiße gerettet, und viel Dankbarkeit habe ich dafür nicht bekommen. An deiner Stelle würde ich jetzt nicht so einfach davon ausgehen, dass ich dich noch mal aus der Scheiße hole. Ein Zimmermann stößt sich nicht zweimal am selben Balken. Außer er hat ein Brett vorm Kopf.«
Wenn es stimmt, dass jede Biographie ihr ganz eigenes persönliches Zentrum hat, einen existenziellen Meridian, an dem alle späteren Handlungen sich orientieren, eine Femtosekunde, in der alle Lebensmotive und -obsessionen sich bilden, in der ein Charakter seinen definitiven Firnis erhält, eine Art Quintessenz, ein Punkt, zu dem das Lot des Seelendoktors immer wieder sich senkt, dann war Jimmy jetzt genau dort. In dem Moment, da er die ausgestreckte, voll Hass und Widerwillen ausgestreckte Hand von Wannes ablehnte, heilige Eide schwor, die Finger ein letztes Mal in den Felsen krallte und sich endlich nach oben zog. Aus eigener Kraft. Hochfliegend der Zukunft entgegen.
II
Kapitel 34
A ls es um halb zehn am Abend noch klingelt, kommt das recht überraschend. Und doch wieder nicht. Jimmy Vos aber ist jetzt nicht bereit für Besuch, wie sich schon aus
Weitere Kostenlose Bücher