Die Letzte Liebe Meiner Mutter
vorgetragene Bitte. Denn was die meisten überhaupt nicht bedachten, war, dass er vor dieser Fahrt schon mal nach Deutschland getourt war und sein Bus auch da voll beladen war mit Liebhabern teutonischer Küche und Liedkunst. Und dass er sich nach dieser Tour nur für ein paar Tage bei seiner ihm immer mehr entfremdeten Familie erholen konnte, um abermals mit einer Truppe Schlagerliebhaber auf Reisen zu gehen. Und dann noch mal dasselbe, erneut in den Schwarzwald, wieder mit begeisterten Jodlern und Bierfestfanatikern. Man dachte nicht daran, dass jemand mit seinem Beruf sich schon freute, wenn er zur Abwechslung mal in den Vatikanstaat fahren durfte und die Nonnen ihm ihre Kassetten mit Ave-Marias zusteckten. (Worauf er sich natürlich schnell wieder nach den abgenudelten Schlagern von Freddy Breck zurücksehnte, ein Mensch war selten zufrieden, aber gut, ein bisschen Abwechslung konnte nichts schaden.)
Doch Jimmys Einweihung in das wundersame Universum von Doe Maar sollte nicht lange währen. Das erste Lied, das vermutlich die elterliche Autorität anprangern sollte, wurde von den älteren Mitreisenden als albernes, pubertäres Machwerk bezeichnet, ein Aufguss von etwas, das die vorige Generation viel besser gemacht hatte. Das zweite Lied, eine ätzende Kritik am Fernsehen, seinen dummen Sendungen und den sich brav verblöden lassenden Zuschauern, war vom selben Kaliber. Subversiver Unsinn von drogenverherrlichenden Rotznasen, die nie einen Krieg erlebt und es in ihren jungen, leeren Leben eigentlich immer viel zu gut gehabt hatten. Außerdem taugte es schon musikalisch gar nichts: Eine vorprogrammierte Hammondorgel, die in einer Tour oing-oing-oing-oing machte, und eine Stimme, die man zigfach verstärken und abmischen musste, damit sie überhaupt anzuhören war! Wenn das Musik sein sollte – Prost Mahlzeit! Ein drittes Lied brauchte denn auch nicht mehr gespielt zu werden. »Mit Du Ma sind wir per Sie«, rief der Scherzkeks der Truppe, wie um zu beweisen, dass man auch mit einem minder gelungenen Witz die Gefühle einer großen Gruppe ausdrücken kann. Der ganze Bus – bis auf wenige Ausnahmen – begann sich zu beschweren, wenn Rudy nicht augenblicklich eine deutsche Wiedergutmachungskassette in seinen Rekorder stecke, würde man die nächste Reise bei der Konkurrenz buchen.
Jimmy selbst ließ die ganze Aufregung ziemlich kalt. Zwar hatte er sich von Héloïse gern ihre Lieblingsband vorstellen lassen, doch seine Gedanken waren woanders. Bei seiner Mutter; der Frau, die fünf Reihen hinter ihm ihr sparsam aufgetragenes Parfüm verströmte und sich einen soeben erworbenen Riegel Schweizer Schokolade in den Mund schob, die Landschaft betrachtend, sich dem Wohlgefühl einer Hand auf ihrem Knie hingebend.
Seine Mutter …
Im Portemonnaie von Jimmys Vater steckte noch immer ein altes Foto von ihr. So wie Todesanzeigen oft jahrelang in einer Brieftasche aufbewahrt werden. Wirklich betrachten würde sein Vater das Foto nicht mehr, dafür kannte er jedes Detail zu genau. Doch jedes Mal, wenn er einen Krankenkassenaufkleber oder seinen Pass aus der Brieftasche holte, richtete ein Augenwinkel sich auf dieses Foto, und sein Unterbewusstsein badete wieder im Schmerz. Denn etwas Tröstliches ging von Untröstlichkeit aus, und das Glück, das er in seine Ehe nie hatte hineintragen können, kompensierte er jetzt weidlich mit der emotionalen Wärme des Selbstmitleids.
Auch Jimmy kannte dieses Foto genau, oft genug hatte er es wie gebannt studiert. Martine, mit noch schlanker Figur, am Strand von Bredene, die entspannt in einer lässigen S-Kurve dastand. Die Haare lang, die Schultern hängend, die Beine für jene Zeit und ihre soziale Schicht unsittlich nackt. Man brauchte kein Kunsthistoriker zu sein, um Parallelen zwischen diesem schlichten, zerknitterten Foto und der »Geburt der Venus« zu sehen, dem Bild, mit dem Sandro Botticelli sich in die Unsterblichkeit gemalt hatte. Doch anders als Venus schaute Martine verliebt in Richtung des Künstlers, hier eines Mannes, der zum ersten Mal im Leben einen Fotoapparat in Händen hielt und einen Knopf drückte, von dem er hoffte, dass es der richtige war. Ein Mann, von dem sie sich noch nicht vorstellen konnte, dass er sie schon bald regelmäßig grün und blau schlagen würde. Ein Mann, der sie einige Tage zuvor versehentlich geschwängert hatte, weil sein Interruptus beim Koitus in Ewigkeit Amen ein bisschen zu spät kam.
Die schöne Frau am Strand, denn schön war sie,
Weitere Kostenlose Bücher