Die Letzte Liebe Meiner Mutter
Matratze zu liegen! Sich in der eigenen Wanne zu strecken und nicht nach jedem Pups Angst davor haben zu müssen, dass zufällig eine Putzfrau hinter ihr steht! Sie freute sich jetzt schon darauf, die Fotos zu bewundern und in ein Album zu kleben, obwohl nicht einmal der erste von zwei Filmen voll war, aber gut. Sie dachte darüber nach, wie sie den Arbeitskolleginnen ihre Reiseerlebnisse schildern würde, und konnte es gar nicht erwarten, den ersten von drei Milliarden Kuckucksrufen durch die Wohnung schallen zu hören. Wenn das kein gelungenes Souvenir war: jede Viertelstunde, Kuckuck, an den Schwarzwald erinnert zu werden! Sie stellte sich vor, wie sie in dreißig Jahren, nach dem Schlagen, Kuckuck, der einen oder anderen Mittagsstunde, einmal ausrufen würde: »Hach, Wannes, weißt du noch, damals im Schwarzwald, unser erster Urlaub zusammen … was wir da gelacht haben!«
Wannes dagegen war äußerst übel gelaunt, weil das Ende des Urlaubs in Sicht kam, und Jimmy musste es büßen.
»… ein eingebildeter Fatzke bist du, anders kann ich’s nicht sagen … Hast du gesehen, wie alle uns angestarrt haben, als du mit deinem ›Ich werd Philosoph‹ ankamst? Hast du die Gesichter gesehen? Der Herr Baron konnte natürlich wieder mal nicht auf dem Teppich bleiben. Ein einfacher Beruf war dem Herrn nicht gut genug, was? Verdammt noch mal, du kannst dir kaum richtig die Ohren waschen – aber Philosoph werden wollen! Phi-lo-soph! Du blamierst uns vor allen Leuten! Und das machst du absichtlich! Was sollen die anderen von uns denken? Dass du die eigenen Eltern verachtest?! Dass du mit einem einfachen Typ nichts zu tun haben willst, der in einer Autofabrik sein Geld verdient? Oder mit einer ungebildeten Mutter, die in einer anderen, genauso deprimierenden Fabrik Sättel für Motorräder steppt? Dass du unsere Lebensweise verachtest? Ist es das? Du brauchst gar nichts zu sagen! Tu ruhig wieder so, als wär ich nicht da, du kleiner Scheißphilosoph. Aber schreib dir eins hinter die ungewaschenen Ohren: Der Tag wird kommen, da tu ich, als gäb’s dich gar nicht. Und dann wirst du ’n anderes Liedchen singen!«
»Ach, Liebling, übertreibst du jetzt nicht ein bisschen?«
Die Intervention der Mutterglucke.
»Übertreiben? Weht jetzt von daher der Wind? Machen Mutter und Sohn jetzt gegen mich auf Opposition? Zeigt ihr mir so eure Dankbarkeit?«
Natürlich war es nicht seine beste Woche gewesen. Erst dieser Durchfall, und dann war er nach Einnahme der Astronautenpillen von innen so versteinert, dass er gar nicht mehr auf die Toilette gehen konnte und somit auch nicht zum Lesen gekommen war, obwohl er sich das so fest vorgenommen hatte. Er konnte nicht begreifen, wie andere es schafften, fünf Bücher pro Jahr zu lesen, sich über die wichtigsten Neuheiten im Kino auf dem Laufenden zu halten, über jedes Fahrradrennen mitreden zu können, eine fundierte Meinung über den Kalten Krieg zu haben und dazwischen auch noch Kinder zu zeugen und zu erziehen, womöglich gar zu Wesen, die das Antlitz der Menschheit verschönern. Eine Woche, eine geschlagene Woche Urlaub hatte er gehabt und kaum anderthalb Seiten gelesen. Und was er gelesen hatte, hatte er schon fast wieder vergessen. Und jetzt musste er aufhören, sich aufzuregen, oder sein Blutdruck spielte wieder verrückt.
Sein Entschluss, spazieren zu gehen, um sein zerschossenes Nervenkostüm wieder ein bisschen zusammenzuflicken, war denn auch die beste Idee, die er seit Anfang der Reise gehabt hatte, für alle Beteiligten.
Kaum war die Tür hinter Wannes ins Schloss gefallen, wurde Jimmy bewusst: Zum ersten Mal seit langer Zeit, zu lange für sein Gefühl, war er – uff! – endlich wieder einmal mit seiner Mutter allein, nur er und sie, und augenblicklich kam eine vertraute Ruhe über ihn. Etwas Ungreifbares, das ihn zu einem besseren Menschen machte. Es war ein Gefühl, das Jimmy auch von zu Hause kannte, wenn Wannes sich mit Sack und Pack zur Spätschicht aufmachte und er seine Mutter für sich allein hatte. Das gemeinsame Abendbrot (und dabei den Teller nie ganz leer essen müssen). Zusammen gemütlich unter derselben Decke vor dem Fernseher sitzen (Überlebende desselben Dreckskerls, emotional zusammengeschweißt durch Erfahrungen mit demselben Rohling) und eine halbe Stunde länger aufbleiben dürfen als sonst. Ach, viel lieber war seine Mutter dann, viel seltener gereizt.
Mit Wannes als Drittem fühlte er sich schnell als Hindernis, der Junge, der dem Glück der
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