Die letzte Lüge: Thriller (German Edition)
Polizistin, Schatz«, sagt Entonces.
»Ich hab Durst«, jammert Consuela. Sie ignoriert ihre Mutter und guckt in den Kühlschrank.
»Dann hol dir was zu trinken und lass uns alleine.«
Im Fach in der Tür ganz unten steht Erdbeermilch. Consuela greift danach, wobei ihr Sweatshirt den schmalen Rücken hochrutscht und von geröteter Haut umgebene schwarze Zeichen zum Vorschein kommen. O’Hara erkennt ein Herz und ein Dollarzeichen in der Mitte. Bevor sie sich zurückhalten kann, springt sie auf und packt das Mädchen viel zu fest am knochigen Handgelenk. Völlig verdattert lässt Consuela die Milch fallen. Die rosafarbene Flüssigkeit breitet sich auf dem Küchenboden aus.
»Consuela«, sagt O’Hara und hat das Gefühl, als würde sich alles um sie herum drehen. »Wann hast du dir das Tattoo stechen lassen?«
»Mama«, jault Consuela, »das tut weh.«
»Nehmen Sie die Hände von meiner Tochter«, schreit Entonces. Sie ist bereits aufgesprungen und kommt auf O’Hara zu. »Für wen zum Teufel halten Sie sich?«
»Tut mir leid«, sagt O’Hara. »Ich wollte Consuela nicht erschrecken. Aber ich muss wissen, woher sie das Tattoo hat.«
»Sie müssen gar nichts wissen. Raus hier, aber sofort! Sonst rufe ich die Polizei.«
41
O’Hara passiert erneut den Eingangsbereich und tritt hinaus auf den Bürgersteig, wo vom Tag nichts weiter übrig blieb als ein Schleier aus milchigem Licht. Die Fort Washington Avenue ist erfüllt vom Geschrei unzähliger dominikanischer und puerto-ricanischer Kinder, die gerade Schulschluss hatten. Eines von ihnen schlängelt sich auf einem kleinen schwarzen Fahrrad, wie es bei Evelyn Lee im Schaufenster stand, durch die Menschenmassen auf dem verstopften Bürgersteig. O’Hara, die noch immer nicht ganz sicher auf den Beinen ist, bahnt sich einen Weg durch die brusthohe Menge und handelt sich feindselige Blicke von den frühreifen Halbstarken ein. Die künftigen Straßenschläger sind geschickter darin, eine Polizistin auszumachen, als Rodriguez und Chamberlain.
O’Hara kauft eine Flasche Wasser und setzt sich damit auf eine Bank auf einer Verkehrsinsel auf dem Broadway. Der Feierabendverkehr rauscht in beiden Richtungen an ihr vorbei. Sie hat eine neue Nachricht von Krekorian auf dem Handy. Sie drückt sich das Telefon fest ans Ohr und kann ihn gerade so verstehen.
»Dar, ich hab mir zwei Stunden lang Videos angesehen, aber Pena und die Mädchen nirgends gefunden. Die Kollegen meinten, an der 103rd, 50th und Christopher Street hängen mehrere Kameras. Aber es gibt so viele Löcher im System, dass sie eigentlich überall durch die Maschen gerutscht sein könnten. Ich würde ja weitermachen, aber es gibt Leute, die für ihren Lebensunterhalt arbeiten müssen. Ruf mich bitte an, bevor du wieder irgendwas Blödes machst.«
Zu spät, denkt O’Hara, macht sich diesmal aber nicht wie sonst mit der gewohnten Vehemenz runter. Sie hätte Consuela nicht so hart anfassen dürfen. Aber dass sie die Tätowierung überhaupt entdeckt hat, macht einiges wett. Es beweist, dass sie den richtigen Riecher hatte – und Lowry nicht. Consuela hat dasselbe Herz am Poansatz wie Francesca. Consuelas Tätowierung war noch sehr frisch, die Haut drumherum wund und gerötet. Sie konnte nicht älter sein als zwei Wochen.
O’Hara verlässt die Mitte des Broadway und geht in die U-Bahnstation. Die Züge stadtauswärts sind jetzt mit Pendlern vollgestopft, die sich an die Scheiben drängen wie Guppys im Aquarium. Die Züge in südlicher Richtung sind hingegen leer. Um 18.30 Uhr steht sie wieder auf der Houston und wie zuvor auf der Fort Washington Avenue ist sie auch hier wieder die Älteste weit und breit. Nicht dass sich der Mann mit den müden Augen hinter dem Tresen ihres neuen Lieblingsimbiss daran gestört hätte.
»Putenbrust auf Kaiserbrötchen«, sagt er lächelnd. »Salatblätter, Tomatenscheiben, etwas Butter und ein bisschen Senf?«
»Geben Sie nicht so an«, sagt O’Hara und wendet sich dem Kühlschrank zu.
Als sie wieder in Zimmer 303 abgetaucht ist, macht sich O’Hara ein Amstel auf und starrt in den dunklen Park. Im Norden kann sie die Bowery bis hoch nach St. Marks überblicken. Auf jedem Wohnhaus steht ein anderer Wasserbehälter. Egal, wo man landet, denkt O’Hara, die Stadt saugt einen auf wie ein Schwamm. In weniger als 24 Stunden hat sich O’Hara eine neue U-Bahnstation, einen neuen Imbiss, ein neues Lieblingssandwich und einen neuen Ausblick zugelegt. Nur der furzend auf dem
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