Die letzte Lüge: Thriller (German Edition)
ihm mit einer Gelassenheit, wie man sie nur in Brooklyn lernt, den Stinkefinger und hält ihn so lange hoch, bis er sich verzieht. Wenige Minuten später schleppt sich Christina durch die Tür. O’Hara folgt ihr in die winzige Bürokabine, wo sie sich auf ihren ergonomischen Schreibtischstuhl sacken lässt und den Kopf auf die Schreibtischplatte legt.
»Ich hab’s schon wieder vergessen«, sagt O’Hara, »wieso arbeiten Sie nochmal für dieses Arschloch?«
»Ich habe wenig Erfahrung und kaum eigene Arbeiten vorzuweisen. Wenn Jürgen will, dass ich ihm sein Mittagessen hole und zuhöre, wie er sich einen blasen lässt – was er ganz offensichtlich will -, dann habe ich die Wahl, mir das entweder gefallen zu lassen oder auf Knien zurück zu meinen Eltern nach Los Angeles zu kriechen. Und glauben Sie mir, das werde ich nicht tun.«
»Sehen Sie, deshalb bin ich hier. Ohne Sie hat Muster kein Alibi. Bedenkt man, dass er Sie in der Hand hat, wüsste ich nicht, wieso ich Ihnen glauben soll, dass Sie beide die ganze Nacht hier waren?«
»Sie können mir glauben.«
»Wieso?«
»Jeder zieht irgendwo die Grenze. Bei mir ist nicht Schluss, wenn ich jemandem beim Abspritzen zuhören soll, sondern wenn es darum geht, dieser Person ein falsches Alibi für einen Mord zu verschaffen.«
Naomi Delfinger ist ebenfalls eingesperrt. Allerdings nicht in eine Bürokabine, sondern in ein 10 000 Quadratmeter großes postmodernes Anwesen in einem grünen Viertel in Stamford, Connecticut. Das Haus liegt in einer privaten Sackgasse, in der jedes dritte Haus für den Abriss vorgesehen ist. Die ursprünglichen Wohnhäuser aus den fünfziger Jahren werden dem Erdboden gleichgemacht, um Platz für protzige Vorstadtpaläste zu schaffen. Die neuen Häuser, zu denen auch das von Delfinger zählt, überragen die Baumkronen und wirken so nackt und überproportioniert wie das Atelier.
Im Gegensatz zu ihrem Haus strahlt Naomi Delfinger etwas bescheiden Heimeliges aus. Sie ist zierlich, zart gebaut und schlicht, hat blassbraunes Haar und übergroße dunkle Augenbrauen. Nachdem ihr O’Hara erklärt hat, sie sei vom NYPD und ermittle in einem Mordfall, führt Delfinger sie durch eine zweistöckige, mit den Porträts ihrer Töchter geschmückte Eingangshalle in eine riesige Küche, in der alles zweifach vorhanden ist: Herd, Spülmaschine, Kühlschrank.
Sie setzen sich an einen sonnenbeschienenen Tisch mit Blick auf den abgedeckten Pool.
»Ihre Mädchen sind wunderschön«, sagt O’Hara.
»Sie waren ein solches Geschenk, besonders in meinem Alter.«
Delfinger, die aussieht wie Anfang vierzig, schenkt Kaffee in Becher und stellt Kekse bereit, die trotz der zweifach vorhandenen Haushaltsgeräte aussehen und schmecken, als würden ihnen gleich mehrere entscheidende Zutaten fehlen. »Mein Mann hat mir erzählt, dass Sie kommen«, sagt Delfinger und O’Hara versucht, ihre Enttäuschung zu verbergen.
»Das würden nicht viele Ehemänner tun.«
»Daniel sagt, sie war eine ganz außergewöhnliche junge Frau mit einer glänzenden Zukunft. Er hat mir gesagt, Sie haben mit allen im Büro gesprochen.«
»Hat Ihr Mann Ihnen erzählt, was Pena in der Kanzlei gemacht hat?«
»Er meinte, sie sei Praktikantin gewesen und habe sich im Herbst an der juristischen Fakultät bewerben wollen.«
»Sie war ein Callgirl, Mrs. Delfinger. Ihr Mann hat sie über einen Escort-Service namens Aphrodite kennengelernt.«
Auf den ersten Blick hatte O’Hara Delfingers Ehefrau, wie sie dort in der riesigen Eingangstür gestanden und winzig klein gewirkt hatte, für eine Frau gehalten, die am seidenen Faden hing und der es nur unter Zuhilfenahme verschreibungspflichtiger Medikamente gelang, die Fassung zu bewahren. Doch jetzt verhärtet sich Naomi Delfingers Blick. »Haben Sie den langen Weg auf sich genommen, nur um mir das zu sagen? Macht es Ihnen Spaß? Wenn nicht, dann verstehe ich nicht, wozu es gut sein soll, dass Sie mich unglücklich machen. Denn das ändert überhaupt nichts. Ganz bestimmt ändert es nichts an der Tatsache, dass mein Mann am Mittwochnachmittag früher nach Hause kam und das Haus das gesamte Wochenende über nicht mehr verlassen hat.«
»Wann ist er eingetroffen?«
»Um etwa zwei Uhr. Aber ich bin sicher, dass er Ihnen das bereits gesagt hat.«
»War außer Ihnen noch jemand hier, der das bestätigen könnte?«
»Nein, nur mein Mann und ich.«
»Hatten Sie keine Gäste?«
»Wir waren zu fünft und das war ganz wunderbar«, sagt Delfinger
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