Die letzte Minute: Thriller (German Edition)
ihr zu haben. Sie war eine Frau mit vielen Geheimnissen. Es konnte nicht schaden, etwas mehr über sie zu erfahren.
Wir landeten mit Verspätung am Flughafen LaGuardia, nachdem wir einem Frühsommersturm hatten ausweichen müssen, der über Kentucky und Ohio wütete. Wir mieteten einen Wagen– bei einer Menschenjagd verließ ich mich nicht auf Taxis und U-Bahnen– und fuhren zum Claiborne-Hotel in Manhattan, wo uns Leonie zwei gegenüberliegende Zimmer reserviert hatte. Der Rest des Hotels schien auf den Beinen zu sein, doch ich fühlte mich völlig erledigt, auch weil wir keinerlei Anhaltspunkt hatten, wo sich Jin Ming aufhielt.
» Gehen Sie schlafen«, meinte Leonie, als wir vor unseren Zimmern standen.
» Ich kann nicht.«
» Und ich kann nicht arbeiten, wenn Sie mir über die Schulter gucken.«
» Wie wollen Sie ihn finden?«
Sie klopfte auf ihren Laptop und hob das Handy. » Das ist mein Job, nicht Ihrer. Ich bin das Gehirn, Sie sind die Kugel.« Sie versuchte zu lächeln, doch es wirkte schrecklich verzweifelt, das wusste sie selbst. » Sorry. Ich versuch einfach, nicht wahnsinnig zu werden.«
» Jin Ming ist aus den Niederlanden verschwunden, spurlos.«
» Es gibt immer eine Spur«, entgegnete sie. » Immer.«
19
New York City
Jack hatte auf dem Flug von Brüssel einen Fensterplatz. Von Amsterdam abzufliegen war für ihn nicht in Frage gekommen: Er vermutete, dass Novem Soles die Bahnhöfe und Flughäfen überwachte. Ricki fuhr ihn nach Brüssel, wo sie sich am Flughafen trennten. Er schloss sich in einer Toilettenkabine ein, um seine Haare glatt zurückzukämmen, damit er dem Bild in seinem neuen Reisepass ähnlicher sah. Seine Gesichtsform veränderte er, indem er Kunststoffteile in beide Wangen schob. Er steckte sich falsche Zähne an, sodass er während des Fluges nicht essen konnte, doch das machte ihm nichts aus. Die leicht getönte Brille, die er auf Rickis Rat trug, verstärkte seine Tarnung noch. Sie hätte fast geweint, als sie ihm die Brille aufsetzte.
Er verließ die Kabine und prüfte das Ergebnis im Spiegel. Bei flüchtiger Betrachtung konnte man ihn tatsächlich für einen anderen halten. Falls er auf einer Watchlist stand, würde ihm das bei den Sicherheitskontrollen einen entscheidenden Vorteil verschaffen. Er trug ein weißes Hemd, Jeans und Turnschuhe und wirkte alles in allem eher unscheinbar.
Am Flughafen Brüssel gab es keine Probleme. Er versuchte, sich nicht zu deutlich umzublicken, doch er achtete auf jedes Gesicht, um zu sehen, ob ihn jemand beobachtete. Im Flugzeug setzte sich eine ältere Dame neben ihn und schlug gleich einen dicken Roman mit einem Schwertkämpfer und einem Drachen auf dem Cover auf, fast als wolle sie von Anfang an klarstellen, dass sie keine Konversation wünschte. Er seufzte erleichtert, schaltete seinen iPod ein und verkroch sich in seine Beatles-Musik. Er schloss die Augen und fuhr erschrocken aus dem Schlaf hoch, als ihm eine der Kunststoffprothesen, die seine Wangenpartie veränderten, ein Stück aus dem Mund gerutscht war. Ich hätte das Ding verschlucken können, dachte er. Nicht so toll, mitten auf einem Transatlantikflug an seiner eigenen Verkleidung zu ersticken. Er schob das Teil mit der Zunge an seinen Platz zurück und blickte verstohlen zu seiner Sitznachbarin hinüber. Sie war in ihre eigene Welt versunken und beachtete ihn nicht.
New York, sehr neblig, erstreckte sich unter ihm. Wieder zu Hause. Nie hätte er gedacht, die Stadt noch einmal zu sehen. Aber was blieb ihm anderes übrig?
Er begab sich zur Zollkontrolle: Sein neuer Pass wies ihn als Philippe Lin, einen belgischen Staatsbürger, aus. Er vergaß beinahe zu atmen, während die Zollbeamtin den Pass studierte und ihn nach dem Grund seiner Einreise fragte. Er sei hier, um Verwandte zu besuchen. Sie fragte ihn, ob er noch andere Reiseziele habe außer New York. Er antwortete, er würde sich nur hier in New York aufhalten, weil sich keine andere Stadt mit ihr messen könne. Sie sah ihn streng an, als wäre sein umgänglicher Ton ein Verstoß gegen das ernsthafte Geschäft, das sie zu verrichten hatte. Verdammt, was soll das, dachte er sich, in einer solchen Situation Witze zu machen. Sein Magen krampfte sich zusammen. Sie war eine kräftig gebaute ältere Lady, die von ihrer Arbeit kein bisschen gelangweilt wirkte. Sie blickte auf ihren Computerbildschirm, dann auf ihn. Er zwang sich ruhig zu bleiben.
In Amsterdam bearbeitete Ricki ihre Computertastatur. Sie war in die
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