Die letzte Minute: Thriller (German Edition)
übrig.«
Ich hatte es falsch angepackt. Aber es gab nun mal keine Gebrauchsanleitung für eine solche Situation. Ich stand auf und holte uns zwei Teller mit Appetithappen von dem Buffet, das die aalglatte Hostess angerichtet hatte. Leonie ließ mich nicht aus den Augen. Ich kam zurück und stellte ihr den Teller hin.
» Danke.« Sie biss von einem Fleischklößchen ab, dann von einer Karottenstange, beides eher aus Höflichkeit.
» Sie haben sich erstaunlich gut im Griff dafür, dass Ihr Kind gerade entführt wurde«, sagte ich. » Ich hab da einen kleinen Vorteil. Mein Kind wurde schon vor Wochen gestohlen. Ich hatte Zeit, mich… an die Situation anzupassen.«
» Das glaub ich Ihnen nicht, dass es Ihnen anders geht als mir«, erwiderte sie. » Sie haben es höchstens verdrängt.«
Ich nahm mir einen kleinen Burger und nippte von meinem Whisky.
Sie sah mich an. » Innerlich bin ich am Boden.«
» Als mein Sohn und meine Frau entführt wurden, konnte ich tagelang nicht essen und schlafen.« Ich wurde des Verrats bezichtigt und in einem CIA -Gefängnis in Polen verhört, doch das wäre ein bisschen viel Information auf einmal für Leonie gewesen.
» Ihre Frau wurde entführt? Haben Sie nicht gesagt…«
» Annas Leute entführten meine Frau, als sie im siebten Monat schwanger war. Ich habe meinen Sohn noch nie gesehen.«
Sie sah mich lange an. » Wie schrecklich. Das tut mir leid.«
» Lassen Sie mich raten, warum Sie nicht zur Polizei gehen können. Sie haben Ihre Kleine von Anna bekommen.«
Sie aß noch ein Stück Karotte. Sie schien nicht der Typ zu sein, der etwas sofort zugab. » Warum glauben Sie das?«
» Sie haben gesagt, Sie verstecken Leute, die nicht gefunden werden wollen. Das heißt, Sie umgehen schon mal das eine oder andere Gesetz, Sie fälschen Papiere, Kreditkarten. Sie kennen Anna. Sie hat Ihnen das Kind verschafft. Anna hat’s gegeben, Anna hat’s genommen.«
Sie verstand es gut, ihre Gefühle zu verbergen, schließlich waren meine Vorwürfe nichts im Vergleich zu den Ängsten, die sie um ihr Kind ausstehen musste. Die einzige sichtbare Reaktion war ein kurzes Zittern ihrer Lippe. » Nein. Taylor ist mein eigenes Kind. Aber ich habe öfters für Anna gearbeitet. Die Kinder, die sie den Leuten gibt«– sie vermied das schreckliche Wort verkauft –, » brauchen manchmal eine Geburtsurkunde. Ich fälsche die Urkunden. Und ich verstecke manchmal Leute, die sie zu mir schickt.«
» Haben Sie auch eine Geburtsurkunde für Julien Daniel Besson gemacht?« Für einen Moment stockte mir der Atem. Ich beugte mich zu ihr, und sie neigte sich ihrerseits mir zu. Ich nahm ihre Hände in meine. » Das war der Name, den sie meinem Sohn bei der Geburt gaben. Er ist in Frankreich zur Welt gekommen. Julien Daniel Besson.«
» Nein. Aber wenn Anna Ihren Sohn als Druckmittel gegen Sie verwendet, hat sie ihn nicht zu einer Familie gegeben. Das würde sie höchstens tun, wenn sie ihn nicht mehr braucht.«
Ihre Worte schnitten mir wie ein Messer in die Kehle.
» Es tut mir leid, Sam. Wirklich.«
» Sie helfen ihr, indem Sie die Geburtsurkunden fälschen.«
Ich glaubte das Knirschen ihrer Zähne zu hören. » Nicht freiwillig.«
Ich sah sie eindringlich an. » Die haben also noch mehr gegen Sie in der Hand.« Ich wusste noch nicht recht, ob ich ihr trauen konnte. Doch sie mit ihren Geheimnissen in die Enge zu treiben war auch kein Weg, ihr Vertrauen zu gewinnen.
» Wir sind hier nicht in einer Quizshow.« Sie stand auf. » Sich Anna zu widersetzen ist tabu. Wir tun, was sie gesagt hat, und sonst nichts. Ich werde Taylor nicht in Gefahr bringen. Und Sie sollten das Leben Ihres Jungen auch nicht aufs Spiel setzen.« Die letzten Worte spuckte sie hervor, als wäre ich der verantwortungsloseste Vater der Welt.
Es hatte keinen Sinn, sie darauf hinzuweisen, wie verrückt es war, mit diesen kaltblütigen Mördern zusammenzuarbeiten und sich an ihre Spielregeln zu halten. » Okay, Leonie. Beruhigen Sie sich.«
» Ich brauche Sie nicht zu kennen, und Sie mich auch nicht.« Sie kippte den restlichen Pinot noir hinunter und nahm ihre Tasche. » Gehen wir an Bord.«
17
Flug 903, Las Vegas– New York
Wir saßen nebeneinander in der ersten Klasse. Die meisten Fluggäste schliefen, ermüdet von der Party in der Wüstenmetropole. Die meisten hatten auch einen Arbeitstag in New York vor sich. Ich sah mir auf meinem persönlichen Bildschirm einen alten Film an: Aliens – Die Rückkehr, und dachte mir,
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