Die letzte Nacht
ihn.«
»Für dich aber auch nicht.«
»Ich bin daran gewöhnt, es ist mein Metier.«
In der Regel vermieden sie Wörter wie »Junker-Bank« und »Überfall«. Lina sprach lieber über andere Dinge. Als wolle sie die verlorene Zeit aufholen.
»Gehst du danach wieder in die Provence? Weißt du, dass ich den Park dieser Villa noch nie gesehen habe?«
»Einmal, als du noch ein Kind warst, sind wir dort gewesen.«
»Ich erinnere mich nicht daran!«
»Aber seit ich dort arbeite, hat sich viel verändert.«
»Hast deine eigenen Vorstellungen umgesetzt, was?«
»Der Bach hat seinen Lauf verändert. Ich wohne in der Hausmeisterwohnung, nebenan ist eine Quelle, das Wasser ist immer frisch …«
Solche Sachen, Belanglosigkeiten. Worte ohne Gewicht, die um den Kern der Dinge kreisten. Es fehlten nur noch ein paar Wochen, dann würden fünf Leute der Junker-Bank zehn Millionen Franken abnehmen. Sie würden es zumindest versuchen.
Während eines der letzten Telefonate hatte Lina einige Fragen gestellt. Sie wusste selbst nicht weshalb, da der Überfall doch längst außerhalb ihrer Gedankenwelt lag. Sie hatte ihn gefragt:
»Seid ihr überhaupt zu dieser Sache in der Lage?«
»Wir sind bereit.«
Lina wusste nicht, wie sie reagieren sollte. Sie fühlte sich wie ein krankes Kind, das versucht zu begreifen, welcher Tätigkeit die Erwachsenen außerhalb des Krankenhauses nachgehen.
»Seid ihr nicht zu wenige?«
»Die richtige Anzahl für eine derartige Arbeit.«
»Und danach?« Lina spähte zu Elton, der ihr ungerührt gegenübersaß. »Es wird nicht so einfach, danach …«
»Wir müssen auf alles gefasst sein, Lina.« Ihr Vater senkte die Stimme. »Bete dafür, dass alles so läuft wie geplant. Jedenfalls …«
Die Pause war länger als sonst. Sodass sie ihn ermunterte.
»Jedenfalls?«
»Nichts. Wenn du mich nach dieser ganzen Geschichte besuchen kommst, zeig ich dir den Park. Hab ich dir schon erzählt, dass ich die Hausmeisterwohnung habe? Nebenan entspringt eine Quelle, das Wasser ist immer schön frisch …«
13
Vor Weihnachten
Giacomo Belloni wusste seit seiner ersten Anstellung: Für alle, die in einer Bank arbeiten, ist Dezember ein schlimmer Monat. Man muss Konten abschließen, Bilanzen prüfen, sich darauf einstellen, zum Jahresbeginn Statistiken vorzulegen. Alle machten haufenweise Überstunden. Und zu Silvester gab es immer ein paar junge Angestellte, die sich bis ein Uhr nachts in der Bank einschlossen.
Als wenn die Vorweihnachtszeit nicht schon anstrengend genug wäre! Es wird erwartet, dass man sich bei Verwandten und Freunden meldet, man wird zum Abendessen eingeladen, und wenn man nicht kommen kann, muss man zumindest ein baldiges Treffen versprechen. Lass uns die Feiertage abwarten, dann sehen wir weiter. Tut mir leid, du, vor Weihnachten schaff ich’s einfach nicht mehr, aber dann … Grüß mir die Deinen, bis bald! Warum kommst du nicht mal auf ein Gläschen vorbei?
Die Gläschen häuften sich, eines über dem anderen, wie Scherben auf einer Müllhalde, die die Landschaft verschandeln. Aber der eigentliche Horror waren für Direktor Belloni die Geschenke. Jedes Jahr kam er erst am Nachmittag des 24. Dezember, wenn er sich heimlich in ein Juweliergeschäft begab, dazu, darüber nachzudenken. Dieses Jahr hatte er jedoch beschlossen, sich nicht zu sehr einspannen zu lassen.
Am Donnerstag den 17. Dezember nahm er einen halben Tag frei, schließlich würde er am Sonntag arbeiten. Er fuhr nach Grancia, südlich von Lugano, und drängte sich in ein Einkaufszentrum. Eine denkwürdige Erfahrung. Direktor Belloni überholte Scharen erschöpfter Pärchen, umschiffte unentschlossene Väter inmitten von Playstation-Spielen, mied gesetzte Damen mittleren Alters, die, von unerklärlicher Raserei gepackt, Regale mit Weihnachtssonderangeboten plünderten.
Am Ende kaufte er ein Schachspiel für seinen ältesten Sohn, ein Parfüm für die Zweitälteste und ein buntes Plastikteeservice für die Jüngste. Für seine Frau eine Bernsteinkette, ein Silberarmband und eine Kassette mit den besten Filmen von Audrey Hepburn. Für seinen Schwiegervater wählte er eine Flasche Whisky, eine rot blühende Topfpflanze für die Schwiegermutter, einen Bildband über Gebirgslandschaften für seinen Vater und eine CD von Frank Sinatra für die Mutter. Fehlten noch zwei Schwestern und ein paar Freunde, aber Direktor Belloni hielt es für ratsam, nicht zu übertreiben, zumindest nicht schon in der ersten Runde.
Am nächsten
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