Die letzte Nonne - Bilyeau, N: Die letzte Nonne
Kräften – und würde so blitzschnell handeln, wenn er die Krone bedroht glaubte?
»Schwes – Schwes – Schwes –«
Das leise heisere Stammeln erschreckte mich. Ich sah Schwester Helen an und konnte es kaum glauben: Die Nonne, die seit der Hinrichtung ihres Bruders in Tyburn kein Wort mehr gesprochen hatte, versuchte, mit mir zu reden. Ja, sie schien verzweifelt zu wünschen, sich mir mitzuteilen. Obwohl der Tag kühl war, glänzte ihr Gesicht von Schweiß.
»Schwester – Jo- Joanna«, stieß sie mühsam hervor.
»Ja? Was ist denn?«
»Ich m-muss mit Euch re-reden.«
Da schoss plötzlich Schwester Agatha höchst geschäftig zur Tür herein und winkte mir mit hochrotem Gesicht zu.
»Ihr werdet gebraucht.«
»Wo?«, fragte ich.
»Im Amtszimmer der Priorin. Die Männer aus Rochester sind vor zwei Stunden eingetroffen und möchten Euch befragen.«
Kalte Furcht ergriff mich. »Warum?«
»Weil Ihr eine der wenigen seid, die den toten Lord Chester mit eigenen Augen gesehen haben.«
Als ich zu Schwester Helen hinübersah, war ihr Mund fest geschlossen. Sie schüttelte kaum merklich den Kopf und rieb sich den Arm, als schmerzte er sie.
»Warum habt Ihr ›Männer‹ gesagt?«, fragte ich, als ich der Novizinnenmeisterin aus der Klausur ins Vorderhaus folgte.
»Der Coroner hat wegen der Schwere des Verbrechens noch zwei andere Leute mitgebracht. Einen älteren Mann und einen jungen.«
Ich musste an den Tower denken. Der Gedanke, von Männern befragt zu werden, machte mir Angst. Keinesfalls durften sie von meiner monatelangen Gefangenschaft im Tower erfahren; ich hoffte aus tiefstem Herzen, dass die Priorin ihnen nichts davon gesagt hatte. Es würde mich in einem zweifelhaften Licht erscheinen lassen und Fragendarüber nach sich ziehen, warum mir die Rückkehr ins Kloster gestattet worden war. Dass ich in eine Morduntersuchung verwickelt wurde, war gewiss das Letzte, was Bischof Gardiner wünschte.
Schwester Agatha blieb nicht, nachdem sie mich ins Zimmer geführt hatte. Sie setzte sich draußen zu der grimmig dreinblickenden Schwester Eleanor und dem noch grimmiger dreinblickenden Bruder Richard auf die Bank.
Die Priorin Joan thronte hoch aufgerichtet an ihrem Tisch, und am Fenster standen drei Männer beisammen. Der Auffallendste unter ihnen, sehr groß und leicht gebeugt, trug einen langen schwarzen Talar, ähnlich dem eines Arztes. Unterhalb seines Kinns hing, an einem Band um seinen Hals befestigt, eine Maske. Ich vermutete, dass dies der Coroner war. Ein zweiter Mann, grauhaarig und stämmig, unterhielt sich leise mit ihm. Der dritte Mann blickte, die Hände auf dem Rücken, zum Fenster hinaus.
Auf einen Wink der Priorin setzte ich mich ihr bangen Herzens gegenüber. Der grauhaarige Mann musterte mich. Er hatte ein offenes, gütiges Gesicht. »Das ist die Novizin Joanna Stafford?«
»Schwester Joanna«, korrigierte die Priorin.
Der Mann am Fenster drehte sich um, hellbraunes Haar, vielleicht Mitte Zwanzig. Die Nachmittagssonne schien auf sein Gesicht und ein schwachrotes Mal an seiner Stirn, die Narbe einer vor Monaten empfangenen Verletzung.
Der Mann war Geoffrey Scovill.
Kapitel 29
Der grauhaarige Mann, der sich auf einen Stock stützte, sagte: »Schwester Joanna, ich bin Richter Edmund Campion, Friedensrichter der Stadt Rochester. Coroner Hancock hat mich um meine Mitwirkung bei dieser doch recht heiklen Untersuchung gebeten. Wir möchten Euch einige Fragen stellen. Sobald wir damit fertig sind,werdet Ihr eine Aussage niederschreiben. Man hat mir gesagt, dass Ihr des Lesens und Schreibens kundig seid. Ist das richtig?«
»Ja, Richter Campion«, antwortete ich.
Ich sah Geoffrey Scovill an, wartete auf ein Zeichen von ihm, dass er mich erkannt hatte. Aber er zeigte nur eine höflich interessierte Miene.
Campion bemerkte meinen Blick zu Geoffrey Scovill. »Das ist Constable Scovill aus Rochester. Er hat einen wachen Verstand und ist gut zu Fuß« – er schwenkte seinen Stock –, »deshalb habe ich ihn mir für diese Untersuchung vom Chief Constable ausgeliehen.«
Geoffrey Scovill verneigte sich mit ausdruckslosem Gesicht.
»Schwester Joanna«, fuhr Campion fort, »ich möchte gern wissen, ganz genau wissen, was Ihr an jenem Morgen im Gästehaus gesehen habt. Leider wurde der tote Lord Chester ebenso wie die Mordwaffe vom Ort der Tat entfernt, und das macht die Untersuchung etwas schwierig. Wir müssen versuchen, den Ablauf des Geschehens mit Hilfe sorgfältiger
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