Die letzte Nonne - Bilyeau, N: Die letzte Nonne
gelangt? Jemand hat es nach dem letzten Gebet nach Mitternacht aus der Kirche entfernt und ins Gästehaus getragen. Euer Pförtner scheintmir ein zuverlässiger Mann zu sein, und er hat geschworen, dass die Tür zwischen dem Vorderhaus und der Klausur abgeschlossen war. Ist er der Einzige, der einen Schlüssel besitzt?«
»Ich habe meinen eigenen Schlüssel«, sagte die Priorin.
Der Coroner und der Richter wechselten einen kurzen Blick.
»Wo war dieser Schlüssel in der fraglichen Nacht?«, fragte Richter Campion.
»In meinem Schlafgemach, ich schlafe getrennt von den Schwestern. Dort lag er auch noch am Morgen, Richter Campion. Und ganz gewiss hat sich niemand in der Nacht in mein Zimmer geschlichen und ihn an sich genommen. Ich habe einen sehr leichten Schlaf.«
»Und Ihr habt Euer Schlafgemach zwischen der Matutin und den Laudes nicht verlassen?«, fragte er in ausdruckslosem Ton.
»Nein. Das habe ich Euch bereits zweimal gesagt.« Ich hörte das schnelle Klick, Klick, Klick des Bisamapfels.
Richter Campion hielt in seiner Wanderung inne und blickte zum Fenster hinaus. »Habt Ihr Pläne aus der Zeit, als das Kloster erbaut wurde? Ich muss herauszufinden versuchen, wie es dem Täter möglich war, sich in der Anlage zu bewegen. Sie ist beinahe zwei Jahrhunderte alt. Es könnte Türen, Fenster oder Gänge geben, die heute nicht mehr benutzt werden und ihm erlaubten, von einem Ort zum anderen zu gelangen.«
Ich erstarrte auf meinem Stuhl.
Das Geheimzimmer
.
»Solche Pläne habe ich nie gesehen«, sagte die Priorin.
»Es muss sie aber geben, Ehrwürdige Priorin.«
Von draußen waren laute Stimmen zu vernehmen. Dann flog die Tür auf, und Geoffrey Scovill trat mit einem Kasten in den Händen ins Zimmer.
»Ihr habt kein Recht, das zu tun!«, schrie Bruder Richard, der ihm auf dem Fuß folgte, aufgebracht.
»Was ist das?«, fragte Richter Campion.
Geoffrey Scovill lachte. »Er ist völlig außer sich, weil ich das bei meiner Durchsuchung des Quartiers der Brüder neben seinem Lager gefunden habe.« Er zog ein schmales Buch aus dem Kasten und hielt es hoch.
Ich erkannte es sofort:
Von Caratacus zu Athelstan.
Bruder Richard griff nach dem Buch, aber Geoffrey Scovill, der größer war als er, hielt es lachend nur noch höher. Richter Campion lächelte, und der Coroner blickte schmunzelnd von seiner Niederschrift auf. Gewandt warf Geoffrey Scovill das Buch dem Richter zu.
Der Richter blätterte eine Weile darin. »Es scheint mir harmlos zu sein.«
Die Priorin seufzte. »Die Bücher dürfen nicht aus der Bibliothek entfernt werden. Bruder Richard weiß das.«
Das Gesicht des Bruders war puterrot. Ich hatte den Eindruck, dass er meinem Blick auswich, aber vielleicht war es auch nur allgemeine Verlegenheit.
»Abgesehen davon«, sagte Geoffrey Scovill, »habe ich eine Feder und ein Tintenfass sowie Papier gefunden, aber keine Briefe. Der Bruder besitzt ein schönes Schachspiel. Und eine edle Truhe voll religiöser Schriften. Bei dem anderen Bruder war nichts zu finden. Nicht ein persönliches Stück.«
Richter Campion reichte das Buch der Priorin und sagte dann zu Bruder Richard: »Da Ihr Euch nun wieder zu uns gesellt habt, Bruder, könnt Ihr vielleicht etwas zum Gespräch beitragen. Wir versuchen gerade zu klären, wie das Reliquiar von der Kirche ins Gästehaus gelangen konnte, obwohl die Türen verschlossen waren.«
»Ich habe keine Ahnung«, antwortete Bruder Richard. »Die Klausurregeln werden in diesem Kloster streng eingehalten. Ich weiß, dass die Schwestern ohne schriftliche Erlaubnis die Klausur nicht verlassen können.«
»Seid Ihr da ganz sicher?«, erkundigte sich Geoffrey Scovill.
Ich sah weder Geoffrey an noch sonst jemanden.
Die Priorin sagte in eisigem Ton: »Wir hatten im vergangenen Frühjahr einen Fall, wo ein Mitglied dieses Klosters sich ohne Erlaubnis durch ein Küchenfenster entfernt hat, um einer Verwandten beizustehen. Die Angelegenheit liegt hinter uns – und hat mit Lord Chesters Besuch absolut nichts zu tun.«
»Um einer Verwandten beizustehen?«, fragte Richter Campion.
»Ja, und das betreffende Fenster ist inzwischen versiegelt und kann nicht mehr geöffnet werden«, sagte die Priorin.
Richter Campion stellte keine weiteren Fragen dazu. Er kehrtezum Abend des Festmahls zurück, forschte nach jeder Kleinigkeit, jedem zufällig belauschten Wort eines Gesprächs, an das wir uns erinnerten. Die Priorin und Bruder Richard beantworteten seine Fragen. Ich blickte
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