Die letzte Nonne - Bilyeau, N: Die letzte Nonne
Fragen zu erfassen.«
Er hielt inne und wandte sich der Priorin zu. »Es ist recht kalt in diesem Zimmer, Priorin. Gibt es keine Möglichkeit, ein Feuer zu machen?«
Die Priorin zog die Brauen hoch. »Wir befinden uns hier in einem Kloster, nicht in einem Palast. Das Calefactorium, unsere Wärmestube, befindet sich südlich des Kapitelhauses. Wenn Ihr es wünscht, kann ich dort Feuer machen lassen, und man kann Euch dorthin geleiten.«
Mir fiel auf, dass die Priorin nichts davon sagte, dass auch im Hospital ein Feuer brannte.
Richter Campion umfasste seinen Stock fester. »Nein, lasst nur.« Er richtete das Wort wieder an mich. »Fahren wir fort. Ich wäre sehr dankbar, wenn Ihr unsere Fragen in allen Einzelheiten beantworten würdet.«
Ich berichtete den Männern, was ich noch in Erinnerung hatte. Vornehmlich interessierte sie, in welcher Haltung ich Lord Chester auf dem Bett vorgefunden hatte und wie die einzelnen Fragmente des zertrümmerten Reliquiars auf dem Boden verteilt gewesen waren. Der Coroner setzte sich auf einen Stuhl und befragte mich überdie Farbe und die Beschaffenheit des Bluts, und obwohl mir dabei fast übel wurde, bemühte ich mich um eine genaue Beschreibung. Er schrieb meine Antworten auf einem Blatt Papier nieder, und Campion lächelte mich jedes Mal an, wenn ich eine neue Einzelheit präsentierte. »Ah, sehr gut«, rief er dann. Geoffrey Scovill tat gar nichts, er hörte nur zu.
»Welche Gemütsstimmung drückte sein unversehrtes Auge aus?«, fragte der Coroner.
Unsicher, was er meinte, schüttelte ich den Kopf.
»Melancholisch, phlegmatisch, sanguinisch oder cholerisch?«, fragte er.
Ich versuchte, mir den Blick dieses Auges ins Gedächtnis zu rufen. Der flüchtige Eindruck, an den ich mich erinnerte, war schwer in Worte zu fassen. »Am ehesten war es Melancholie«, sagte ich schließlich.
»Er wirkte nicht cholerisch – zornig oder angstvoll?«, fragte der Coroner, die buschigen graugesprenkelten Brauen zusammengezogen.
»Nein«, antwortete ich. »Er war – überrascht. Aber nicht entsetzt.«
Zum ersten Mal ergriff Geoffrey Scovill das Wort. »Wie es vielleicht der Fall wäre, wenn Lord Chester im Augenblick seines Todes einem Menschen ins Gesicht geblickt hätte, den er kannte?«
Ja, es war dieselbe Stimme. Es war derselbe Mann: Geoffrey Scovill.
Ich schüttelte den Kopf. »Ich möchte lieber keine Mutmaßungen anstellen, Sir«, sagte ich in höflichem Ton.
Richter Campion lächelte. »Oh, aber wir
brauchen
Eure Mutmaßungen, Schwester Joanna. Ihr habt ein scharfes Auge. Ihr habt uns bisher eine äußerst genaue Beschreibung Seiner Lordschaft geliefert.« Er wandte sich an die Priorin. »Ich muss Euch beglückwünschen, dass Ihr eine so aufmerksame und kluge junge Frau in Eurem Kloster habt.«
Die Priorin sagte nichts.
»Es hat mich erstaunt, die Weiträumigkeit Eures Gästehauses zu sehen, da Ihr doch so sehr bedacht darauf seid, die Welt fernzuhalten«, meinte Richter Campion nachdenklich.
Die Priorin antwortete: »Der Sinn unseres
domus hospitum –
«
»Eures was?« Der Richter sah sie mit zusammengekniffenen Augen an.
»Haus der Gastfreundschaft«, warf Geoffrey Scovill ein.
Er sprach also Latein. Das hatte ich nicht gewusst.
Die Priorin erklärte, die Gastfreundschaft des Klosters gelte vor allem für Schutzsuchende. Witwen, die geistlichen Trost suchten, hatten hier Unterkunft gefunden. Es kam auch vor, dass in Kriegszeiten ein Ortsansässiger um Aufnahme seiner Ehefrau und seiner Töchter bat. Als Heinrich V. seine Truppen nach Frankreich geführt hatte, waren alle Räume des Gästehauses voll gewesen.
Richter Campion nahm das nickend zur Kenntnis, bevor er seine Aufmerksamkeit wieder auf mich richtete. »Also, Schwester Joanna, teilt uns Eure Überlegungen mit. Ihr werdet Euch doch Eure Gedanken gemacht haben.«
»Sir?«, fragte ich widerstrebend.
Auf seinen Stock gestützt begann er, hin- und herzugehen. »Lord Chester erscheint zu Eurem Festmahl. Er spricht den Speisen und dem Wein in solchem Maß zu, dass er schließlich besinnungslos zu Boden stürzt und ins Vorderhaus des Klosters gebracht wird. Ich muss sagen, es wundert mich, dass ihm solche Mengen Weins aufgetischt wurden.«
Ich sprang sofort für unser Kloster in die Bresche. »Er war schon betrunken, als er kam.«
»Ach? Und woher wisst Ihr das? Niemand sonst hat etwas davon gesagt.«
»Ich habe es an seinem Atem gerochen.«
Richter Campion zog die Brauen hoch. »Aha«, sagte er
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