Die letzte Nonne - Bilyeau, N: Die letzte Nonne
beharrlich zu Boden, bis mein tobendes Herz sich beruhigte.
Erst dann sah ich zu Geoffrey Scovill hinauf und ertappte ihn. Er beobachtete mich, und nicht mit der Miene unbeteiligter Höflichkeit, die er bislang zur Schau getragen hatte. Nein, in seinem Blick lag die gleiche Ungläubigkeit wie damals im Tower, als ich ihn vor dem Herzog von Norfolk so schwer beleidigt hatte. Ungeheuer gern hätte ich ihm alles erklärt, aber es war nicht möglich.
Richter Campion kam jetzt wieder auf die Tapisserie zurück. »Lord Chester fragte also alle: ›
Wie konntet Ihr das tun?
‹, als er sich diese Tapisserie ansah, die im letzten Jahr von den Schwestern gearbeitet worden war?«
»Das ist richtig«, stimmte Bruder Richard zu.
»Worauf spielte er an?«
Bruder Richard und die Priorin wechselten einen Blick, bevor sie beide mit den Schultern zuckten. »Er war stark betrunken, fürchte ich«, sagte die Priorin.
»Und das war das Letzte, was er sagte, bevor er zusammenbrach?«
»Nein«, sagte ich. »Vorher sagte er noch etwas.«
Alle Augen richteten sich auf mich. Richter Campion strahlte. »Ah, unsere höchst aufmerksame Novizin. Und wie lauteten die letzten Worte von Lord Chester?«
»Er sagte:
›Wie konntet Ihr das wissen? Wie konntet Ihr von ihr wissen?
‹
«
»Von Schwester Winifred?«, fragte Geoffrey Scovill.
»Nein, er sah zur Tapisserie, als er das sagte.« Noch etwas fiel mir ein. »Sein Blick war auf das Mädchen in der Mitte des Bildes gerichtet.«
»Er wird infolge des übermäßigen Weingenusses nicht mehr recht bei Sinnen gewesen sein«, meinte der Coroner.
»Wahrscheinlich«, pflichtete Richter Campion bei, »aber wir müssen uns die Tapisserie ansehen. Ist das möglich, Ehrwürdige Priorin?«
»Sie ist noch nicht von der Wand im Kapitelsaal genommen worden«, antwortete sie.
»Geoffrey, wollt Ihr das nicht gleich übernehmen?«, fragte der Richter. »Könnte jemand ihn ins Kapitelhaus begleiten?«
»Ich«, sagte ich schnell.
Richter Campion musterte mich. »Ja, gut, ich glaube, ich brauche Euch jetzt nicht mehr, Schwester Joanna. Fürs Erste.«
Ich wandte mich Geoffrey Scovill zu. »Wollt Ihr mir folgen, Mister Scovill?«
Ich entdeckte einen Schimmer gespannter Erwartung in seinem Blick, als er sich leicht verbeugte. »Ich danke Euch für Eure Hilfe.«
Kapitel 30
Wir waren erst ein kurzes Stück den Gang hinunter, als Schwester Eleanor mich anrief. »Halt, Schwester Joanna!«
Eilig lief sie uns nach. »Die Ehrwürdige Priorin hat mich gebeten, Euch zu begleiten.« Sie musterte Geoffrey Scovill von oben bis unten und versuchte kaum, ihren Unwillen zu verbergen. Ein Lächeln unterdrückend, verbeugte sich der Constable vor ihr.
Schwester Eleanor ging nun voraus. Ich folgte ihr mit respektvollem Abstand, während Geoffrey Scovill sich dicht hinter mir hielt. Seine Schritte hallten laut auf dem steinernen Boden wider.
An der Arkade, die am Kreuzgang entlangführte, hörte ich seinen Schritt plötzlich nicht mehr und drehte mich verwundert um. Er war neben einer Säule stehen geblieben und blickte in den Innenhof, der wie ein Garten angelegt war. Das Sonnenlicht glänzte auf dem Laub der Quittenbäume und den liebevoll gepflegten Kräutern, die noch im Herbst blühten.
»Das ist so schön«, sagte er. »Ich habe dergleichen nie gesehen.«
»Mister Scovill, wenn ich bitten darf«, rief Schwester Eleanor ungeduldig. »Wir haben hier alle sehr viel zu tun.«
Nur ungern kehrte ich in den Kapitelsaal zurück, doch alle Spuren des Festmahls waren beseitigt, bis auf die Tapisserie. Die Tische, die Leuchter, das feine Linnen und das Silber – alles war verschwunden, der durchdringende Fleischgeruch verflogen. Geoffrey Scovill trat so zögernd ein wie ich und ließ den Blick bedächtig durch den Saal schweifen, als wollte er den Abend in seiner ganzen Abscheulichkeit vor sich erstehen lassen.
Ohne Rücksicht auf sein Bemühen sagte Schwester Eleanor: »Mister Scovill, wie lange werdet Ihr und die anderen Herren aus Rochester noch im Kloster bleiben?«
Geoffrey Scovill hatte jetzt seine Aufmerksamkeit auf die Tapisserie gerichtet. Ohne den Blick von ihr abzuwenden, antwortete er: »Der Coroner ist verpflichtet, innerhalb von drei Tagen nach seiner Ankunft am Ort eines verdächtigen Todesfalls eine gerichtliche Untersuchung durchzuführen. Zwölf Schöffen, Männer aus der Gemeinde, müssen aufgrund der vorgelegten Beweise und Aussagen darüber entscheiden, ob ein Mord vorliegt. Ein Coroner
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