Die letzte Nonne - Bilyeau, N: Die letzte Nonne
Dominikaner ihn austragen konnten. War die Krone, die König Athelstan zum Geschenk gemacht wurde, einst von Jesus Christus getragen worden?
»Die Dornenkrone liegt streng bewacht in der Sainte-Chapelle in Paris«, sagte Bruder Richard verdrossen. »Sie ist niemals nach England gelangt. Sie wurde im Heiligen Land aufbewahrt, bis Kaiser Balduin von Konstantinopel, dessen Vater die Krone auf einem Kreuzzug im 13. Jahrhundert erobert hatte, sie an Ludwig IX. verkaufte.«
»Aber habt Ihr Euch nie darüber gewundert, dass Balduin die Krone Christi just zu dem Zeitpunkt zum Vorschein brachte, als er bei den Venezianern gefährlich hohe Schulden angehäuft hatte?«, fragte Bruder Edmund. »Ludwig bezahlte hundertfünfunddreißig Livres dafür und beglich Balduins Schulden.«
Ich fand die Vorstellung, dass weltliche Könige um diese heilige Krone geschachert hatten, bedrückend.
»Überlegt doch, dieser Handel wurde erst nach dem Dritten Kreuzzug abgeschlossen«, fuhr Bruder Edmund fort. Das Reden über Geschichte erfüllte ihn mit Leben; sein Leiden trat in den Hintergrund. »Über Jahrhunderte wurden im Heiligen Land alle möglichen Reliquien und Heiligtümer entdeckt und von den Kreuzfahrern nach Europa gebracht. Sie gelangten in einem stetigen Strom nach Westen. Und ganz zum Schluss erscheint plötzlich die Dornenkrone auf dem Markt?«
»Dann behauptet Ihr, dass Ludwig IX. – der Heilige – und alle Könige von Frankreich nach ihm Narren waren«, konterte Bruder Richard. »Vergesst nicht, dass es zwei Dominikaner waren, die die Krone nach Paris begleiteten. Ihr könnt über die europäischen Herrscher sagen, was Ihr wollt, aber ein Dominikaner ließe sich niemals hinters Licht führen. Und dennoch wollt Ihr darauf beharren, dass die Krone im 10. Jahrhundert als Preis für eine obskure englische Prinzessin bezahlt wurde?«
»Hört auf, ich bitte Euch«, rief ich und schwenkte die Hände vor ihren glühenden Gesichtern. »Ich bin schon ganz verwirrt.«
Die beiden Brüder lächelten betreten. »Verzeiht, Schwester Joanna, über solche Dinge könnten wir nächtelang streiten«, sagte Bruder Edmund. »Beginnen wir noch einmal am Anfang.«
Bruder Richard stand auf. »Einverstanden. Und der Anfang ist – Golgatha.« Er nahm eine Bibel heraus und suchte eine bestimmte Passage. Aus dem Lateinischen übersetzend las er vor: »
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Da nahm Pilatus Jesus und ließ ihn geißeln. Und die Soldaten flochten eine Krone aus Dornen und setzten sie auf sein Haupt und legten ihm ein Purpurgewand an und traten zu ihm und sprachen: Sei gegrüßt, König der Juden, und schlugen ihm ins Gesicht. Und Jesus kam heraus und trug die Dornenkrone und das Purpurgewand. Und Pilatus sprach zu ihnen: Seht, welch ein Mensch.
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«
Bruder Richard sagte sehr nachdenklich: »Die Dornenkrone hat für mich neben Leiden und Demut stets auch den Gedanken verkörpert, dass wir alle durch Schmerz und Leid hindurchgehen müssen, um die Grenze zum himmlischen Leben zu überschreiten.«
Bruder Edmund nickte. »Das Kreuz Jesu, die Nägel, die seinen Leib durchbohrten, die Dornenkrone, die Tafel mit der Inschrift ›König der Juden‹, der Speer, mit dem ein Römer ihn in die Seite stach – das alles sind Passionsreliquien. Nach der Kreuzabnahme wurden sie von seinen Anhängern in Jerusalem aufbewahrt, und ein paar Hundert Jahre lang geschah gar nichts. Dann wurde Rom christlich, und die heilige Helena reiste nach Jerusalem.«
»Die Mutter des ersten christlichen Kaisers?«, fragte ich.
»Richtig«, bestätigte Bruder Edmund.
Helena, berichtete er, war im Jahr 326 nach Jerusalem gereist, um Zeugnisse des Lebens Jesu zu sammeln. Sie fand das wahre Kreuz, nur noch in Stücken, und ordnete den Bau einer Kirche zu seiner Aufbewahrung an. In den folgenden Jahrhunderten wurden weitere Passionsreliquien entdeckt, und Christen reisten ins Heilige Land, um sie zu bestaunen.
Von der Dornenkrone war zum ersten Mal um das 6. Jahrhundert herum berichtet worden, erklärte Bruder Richard. Zu dieser Zeit hatte der gewissenlose Umgang mit den heiligen Hinterlassenschaften schon begonnen: die Diebstähle von Reliquien, die Plünderung von Krypten. Selbst dem kleinsten Überbleibsel vom Leib irgendeines unbedeutenden Heiligen wurden heilende Kräfte zugeschrieben.
»Überall wurden heilige Stätten für die Pilger errichtet, die dorthin strömten, um Gelübde abzulegen und Heilung zu suchen – und die dort ihre Münzen zurücklassen
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