Die letzte Nonne - Bilyeau, N: Die letzte Nonne
sollten«, sagte Bruder Edmund und verzog das Gesicht. »Bis im 8. Jahrhundert Karl der Große auf den Plan trat, der erste Herrscher eines wahrhaft christlichen Reiches im Westen. Er war ein sehr frommer und sehr reicher Sammler von Reliquien. Ich finde es völlig einleuchtend, dass er neben den Nägeln vom Kreuz, dem Speer und all den anderen Passionsreliquien auch die Dornenkrone erwarb. Und von ihm ging sie auf seinen Nachfahren, den ersten Capet, über.«
Bruder Richard klopfte mit den Fingern auf den Tisch. »Es gibt auch noch eine andere Möglichkeit.«
Die beiden Brüder fixierten einander, dann nickte Bruder Edmund, als hätte er die Gedanken des anderen gelesen. »Die Teilung.«
Ärgerlich sagte ich: »Brüder, ich bitte Euch.«
»Nochmals Verzeihung, Schwester«, bat Bruder Edmund. »Es ist möglich, dass sowohl die Krone, die Hugo Capet Athelstan zum Geschenk machte, als auch die, die heute in Paris liegt, heilig sind.«
»Wie ist das möglich?«
»Es heißt, dass siebzig Dornen die Zweige der Krone Jesu besetzten. Es gibt Berichte, die behaupten, dass die Krone irgendwann einmal auseinandergenommen und die Dornen verteilt wurden.«
»Aber wer würde denn etwas so Gottloses tun?«, fragte ich ungläubig.
»Der Handel mit Reliquien hatte immer seine finsteren Seiten«, antwortete Bruder Richard. »Die Menschen sind schwach, Sklaven von Stolz und Habgier.«
Sein Zynismus stieß mich ab. »In der Vergangenheit, in Zeiten der Unwissenheit um die göttliche Wahrheit mögen Fehler begangen worden sein«, entgegnete ich. »Aber heute ist das doch ganz anders. Niemand würde die Reliquien an den heiligen Stätten Englands fälschen.«
Die beiden Brüder schwiegen. Keiner von beiden sah mich an.
»Nein – das kann nicht wahr sein«, rief ich. »Ihr könnt nicht behaupten, dass heute in unseren Klöstern die Menschen getäuscht werden. Das ist einfach undenkbar!«
Bruder Edmund beugte sich über den Tisch zu mir. »Schwester Joanna, Ihr seid eine starke junge Frau. Ihr müsst an Eurem Glauben festhalten trotz allem, was ich Euch jetzt sage.« Er holte tief Atem. »In der Abtei Hailes in Gloucestershire gibt es eine Phiale vom Heiligen Blut Christi, die dort seit dem 13. Jahrhundert ausgestellt wird.«
»Ja, davon weiß ich natürlich. Meine Cousinen Margaret Bulmer und die Herzogin von Norfolk haben vor Jahren einmal eine Pilgerreise dorthin unternommen«, sagte ich. »Ihr wollt doch nicht behaupten …« Ich konnte nicht weitersprechen. Ich sah Margaret vor mir, wie sie mit mir am Feuer saß und mir voll Ehrfurcht von der göttlichen Schönheit erzählte, die sich ihr auf ihren Pilgerreisen offenbart hatte.
»Die Mönche haben Schweineblut verwendet«, sagte Bruder Richard trocken. »Es hatte schon vorher Gerüchte gegeben, aber letztesJahr haben sie es unter Druck schließlich eingestanden. Ich könnte ähnliche Beispiele aus anderen Klöstern nennen.«
Ich hatte die Schwäche des Menschen in meinem Leben wahrhaftig kennengelernt. Doch diese Ernüchterung traf mich mit niederschmetternder Gewalt. Ich sprang auf.
»Wenn das wirklich wahr ist«, sagte ich, »und ich kann nicht glauben, dass Ihr so grausam wärt, mir so etwas zu erzählen, wenn Ihr nicht sicher wärt – wozu kämpfen wir dann noch um die Rettung der Klöster und unseres alten Glaubens? Es scheint ja doch alles auf Lüge gebaut zu sein.«
Bruder Edmund sprang ebenfalls auf. Er umfasste meine Hände. »Es ist
nicht
alles auf Lüge gebaut. Es gibt Erscheinungen des Sittenverfalls in den Gotteshäusern Englands, das ist nicht zu leugnen. Was glaubt Ihr denn, wie es sonst den königlichen Kommissaren möglich gewesen wäre, Berichte zu liefern, die die Auflösung der Klöster rechtfertigten? Aber Ihr findet auch fromme Hingabe und echte Spiritualität.«
»Wir befinden uns auf einer Reise, die uns nach Dartford geführt hat, Schwester Joanna«, sagte Bruder Richard. »Zur Verteidigung von Weisheit, Wahrheit und Gerechtigkeit. Und zur Verteidigung Gottes. Ihr seid zur Teilnahme gezwungen worden, genau wie Bruder Edmund, aber ich vermute, auch Ihr glaubt an diese Reise.«
Ich senkte den Kopf. Ich musste daran denken, wie wir Schwestern von Dartford einander an den Händen gefasst und gemeinsam geweint und gebetet hatten, als eine der unseren, Schwester Helen, gestorben war. Wie wir einander in schweren Zeiten geholfen und uns gegenseitig gestützt hatten, immer getragen von der geheimnisvollen und überirdischen Kraft
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