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Die letzte Nonne - Bilyeau, N: Die letzte Nonne

Die letzte Nonne - Bilyeau, N: Die letzte Nonne

Titel: Die letzte Nonne - Bilyeau, N: Die letzte Nonne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nancy Bilyeau
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Wärme des austretenden Bluts, achtete aber nicht auf den Schmerz.
    »Wartet auf mich, Bruder«, rief ich.
    Er wartete am geöffneten Seitenportal der Abtei. Als ich ihn erreichte, nahm er die Haube ab, die bis dahin seine Tonsur bedeckt hatte. »Ich werde hier vor Gott kein falsches Spiel spielen«, sagte er ruhig.
    »Wir kennen den Abt nicht, wir wissen nicht, ob wir ihm trauen können«, warnte ich.
    Bruder Edmund schloss die Augen und lauschte dem Gesang aus dem Inneren der Abtei. »Ist das nicht schön, Schwester Joanna?«, fragte er. »Ist Euch nicht auch, als kämen wir nach Hause?«
    »Es tut gut, die liturgischen Gesänge wieder zu hören«, sagte ichvorsichtig. Dieser prunkvollen, halb verwüsteten Abtei haftete etwas an, was mich beunruhigte.
    »Ich wünschte, ich könnte hier die Beichte ablegen«, sagte er, den Blick ins Innere gerichtet. »Es ist lange her, und meine Sünden sind groß.«
    »Das kann ich mir nicht vorstellen, Bruder Edmund.«
    Er drückte die Hand gegen die Mauer der Abtei, als suchte er dort Kraft. »Ich muss Euch etwas sagen, Schwester Joanna.«
    »Ja?«
    Mit abgewandtem Gesicht sagte er: »Ich wünschte mir gestern Nacht, ich könnte mich zu Euch legen. Ich war in meinem Leben nie mit einer Frau zusammen, aber in diesem Zimmer spürte ich eine große Versuchung. Ich muss das sagen, bevor wir die Abtei betreten.«
    Ich blickte auf das schmale, empfindsame Profil.
    »Deshalb bin ich aus dem Zimmer verschwunden, deshalb war ich heute Morgen so kühl zu Euch«, fuhr er stockend fort. »Es war ungerecht. Ihr habt nichts getan. Ich bin ein sehr schwacher Mensch   – das wissen wir beide. Aber Euer Vertrauen und Euer Glaube haben mich in diesen vielen Wochen gestützt. Ich schwöre bei meinem Leben, dass ich Euer Vertrauen niemals missbrauchen werde.«
    Er schien auf eine Antwort von mir zu warten, aber ich konnte nichts sagen.
    Der Gesang drinnen schwoll zum Crescendo an: »Kommt und lasst uns singen, singen zu Gott, unserem Herrn   …«
    Als Bruder Edmund sich mir wieder zuwandte, war sein Blick stolz und traurig. »Wollen wir hineingehen, Schwester?«
    »Ja, Bruder.«
    Der Gesang führte uns zu den Benediktinermönchen von Malmesbury. Durch einen Bezirk der Zerstörung schritten wir zum hinteren, unversehrten Teil der Abtei. Ihre Kirche war groß und alt. Die Säulen und die Kirchenbänke ähnelten denen in anderen Gotteshäusern. Die Apsis, mit einer Halbkuppel überwölbt, war mit herrlichen Glasmalereien geschmückt, in denen sich schimmernd das flackernde Licht der Kerzen spiegelte.
    Bruder Edmund und ich warteten ehrerbietig hinten in der Kircheauf das Ende der Vesper. Als der Abt uns bemerkte, trat er aus der Apsis heraus und kam uns durch das Schiff entgegen.
    Bruder Edmund rührte sich nicht. Er wich nicht zurück. Aber mir war bang. Was würde der Abt von einem Mann mit Tonsur halten, der keine Ordenstracht trug und von einer Frau begleitet wurde?
    Der Abt war ein großer Mann mit auffallenden grünen Augen, vielleicht vierzig Jahre alt. Wenige Schritte vor uns blieb er stehen und hob freudig die Arme zum Himmel. »Ihr seid gekommen!«, jubelte er. »Gott sei gepriesen, Ihr seid gekommen!«
    Bruder Edmund starrte ihn verwundert an. »Kennt Ihr uns?«, fragte er.
    »Wir alle kennen Euch; wir sehen Euch jeden Tag«, antwortete der Abt.
    Ich schob mich näher an Bruder Edmund heran. Hier ging etwas nicht mit rechten Dingen zu.
    »Ehrwürdiger Abt, wir waren noch nie in dieser Abtei«, erklärte Bruder Edmund.
    Er lächelte. »Ich bin Abt Roger Frampton, und ich heiße Euch willkommen an dem Ort, an dem Ihr erwartet worden seid, und zwar genau zum heutigen Abend.« Er winkte uns, ihm zu folgen, und führte uns durch den Mittelgang zur Apsis zurück. Etwa zwanzig Mönche saßen in ihren Bänken. Alle lächelten so glücklich, als wir vorüberkamen, als wären wir die heimgekehrten verlorenen Kinder. Mir machte das nur noch mehr Angst, und ich hielt mich dicht bei Bruder Edmund. In der ersten Bank saß ein einzelner Mönch, ein magerer Mann mit ergrauendem Haar, der nicht lächelte, sondern uns mit Furcht und Misstrauen musterte.
    Der Abt führte uns zu einem dreiteiligen bemalten Fenster auf der linken Seite der Apsis, das offenkundig Jahrhunderte alt war. Die beiden Seitenscheiben zeigten zwei Figuren: einen Mann und eine Frau. Der Mann war blond und trug unverkennbar eine Tonsur. Die Frau war kleiner und hatte lange dunkle Haare. Zu Füßen jeder der beiden Figuren leuchtete

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