Die letzte Nonne - Bilyeau, N: Die letzte Nonne
eine goldene Krone.
Bruder Edmund und ich sahen einander fassungslos an. Unsere Ankunft in Malmesbury war vorausgesagt und in geheiligtem Glas verewigt worden.
»Dann wisst Ihr, warum wir hier sind?«, brachte ich schließlich hervor.
Der Abt nickte. »Ihr seid hier, um
ihm
zu dienen.« Er hob in Verehrung beide Arme zu der größten Figur, die auf der Scheibe in der Mitte dargestellt war. Sie zeigte einen Mann in goldener Rüstung, mit Schild und Schwert bewaffnet. Langes flachsblondes Haar hing auf seine breiten Schultern herab, um die ein roter Umhang lag. Das junge, schöne Gesicht lächelte nicht. Ein Bein war leicht erhoben, als wollte er aus dem Glasfenster in die Kirche treten.
»König Athelstan«, flüsterte ich.
»Athelstan der Ruhmreiche, der erste König von ganz England und Wohltäter unserer Abtei.« Die Stimme des Abts schallte laut durch die Kirche, und bekräftigendes Gemurmel antwortete ihm. »Stark und furchtlos, weise und gerecht in all seinem Handeln. Ein Mann von höchster Reinheit.«
»Und seine Grabstätte ist hier, in der Abtei?«, fragte Bruder Edmund.
»Ich werde Euch zu ihm führen«, sagte der Abt.
Er zündete eine Kerze an und ging uns voraus eine Wendeltreppe auf der Seite der Kirche hinunter. Wir schritten durch eine Vorhalle und dann durch einen breiten Torbogen. Ich hatte den Eindruck, dass wir uns unter dem Altarraum der Kirche befanden.
Der Abt zündete ringsumher Kerzen an, als wir in das kahle steinerne Gewölbe eintraten. Er führte uns zu der in Stein gemeißelten Figur von Athelstan. Es war bei all seiner Schmucklosigkeit ein wahrhaft majestätisches Grabmal. Der König ruhte mit emporgewandtem Gesicht auf einem massigen rechteckigen Sockel, die aus Stein gehauenen Falten eines langen Gewands verhüllten seinen Körper, auf seinem Kopf saß eine schlichte Krone. Mir war, als tauchte ich in die Seele eines untergegangenen sächsischen Königreichs ein.
Mit dem Abt knieten wir vor dem Grabmal nieder. Der Boden war abgenutzt von den Kniefällen unzähliger Pilger vor uns. In den Stein eingehauen war zu lesen: ATHELSTAN, 895 bis 939 ANNO DOMINI.
Der Abt deklamierte: »Der heilige König Athelstan, berühmt in der ganzen Welt, hoch geachtet und geehrt von allen, von Gotteingesetzt als König über die Engländer und als Führer irdischer Heere.«
Ich hatte den Eindruck, dass die Luft sich leise bewegte, und blickte über meine Schulter. Mir war, als hätte ein Mann das Gewölbe betreten, aber ich sah niemanden.
Ich wandte mich wieder dem steinernen Abbild des Königs zu und versuchte zu beten, doch das starke Empfinden, beobachtet zu werden, und nicht mit Wohlwollen, sondern feindselig, lenkte mich ab. Ich musste daran denken, wie ich im dunklen Gang in Dartford in heillosem Schrecken vor diesem selben Eindruck geflohen war. Ich blickte hinauf zum steinernen Antlitz des Königs, das hier strenger wirkte als auf dem Glasbild. Das war der König, der als junger Mann seinen eigenen Bruder in einem Boot ohne Segel und ohne Nahrung auf dem Meer ausgesetzt hatte.
Der Abt bekreuzigte sich und stand auf. Wir folgten ihm.
Ich wollte nur hinaus aus diesem Gewölbe, aber Bruder Edmund schien nichts von einer feindseligen Präsenz zu spüren. Er vertiefte sich in eine eingehende Betrachtung des Grabmals. »Ich habe mein Leben lang die Geschichte studiert, aber ich weiß wenig von diesem König. Ich kann mir selbst nicht erklären, warum. War er verheiratet? Hatte er Kinder?«
»O nein«, antwortete der Abt schaudernd, als wäre diese Vorstellung ganz und gar abstoßend. »Athelstan hat nie eine Frau berührt. Er hatte sich ganz Gott geweiht.«
»Hat er die Gelübde abgelegt?«, fragte Bruder Edmund. »War er Mönch?«
»Nein, er war etwas anderes. Er war etwas, was die Welt vor ihm und nach ihm nie gesehen hat. Ein König von höchster Reinheit.« Der Abt lächelte. »Wir haben in unserer Bibliothek, die unversehrt ist, viele Schriftstücke, die ihm gewidmet sind. Die Schriften von William von Malmesbury, unserem geachteten Historiker, sind hier versammelt.« Er strich mit der Hand über eine Ecke des Grabmals. »Ich fürchte allerdings, dass in unserem Land die Geschichte von den Eroberern geschrieben wird. Nur wenige besuchen noch unsere Bibliothek. Seit die Familie Alfreds, Eduards und Athelstans erloschen ist, hat kein wahrhaft englischer König mehr auf demThron gesessen. In ihrer aller Adern floss das Blut fremder Eroberer, der Normannen und der Plantagenets.« Er
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