Die letzte Nonne - Bilyeau, N: Die letzte Nonne
aber nach manchen Fassungen zürnen sie ihm auch, dass er sie nicht beschützt hat. Alle Plejaden gebaren Kinder, die sie mit Göttern oder Halbgöttern gezeugt hatten, manchmal nachdem ihnen Gewalt angetan worden war. Es gibt eine Version, der zufolge sie sich gegen ihren Vater wenden. Sie hassen ihn. Ja, ihr Tanz auf dem Bild dieser Tapisserie ist zornig.«
»Deshalb wollte sie mich auf die Geschichte aufmerksam machen«, meinte ich. Etwas ganz anderes kam mir plötzlich in den Sinn. »Was ist mit Bischof Gardiner?«, fragte ich.
»Er ist schon lange wieder in Frankreich. Er war vom König nach London beordert worden, um sich persönlich dessen Anforderungen an eine neue Ehefrau anzuhören. Nun muss er mit König Franz um eine französische Prinzessin verhandeln.«
»Die Arme.« Ich schauderte und bemerkte, wie sich in Bruder Edmunds Gesicht etwas veränderte. Ich ahnte, dass er mir noch nicht alles gesagt hatte. »Was ist, Bruder?«, drängte ich ihn.
»Schwester Christina ist bereits angeklagt und des Mordes für schuldig befunden worden.« Er zögerte.
»Sagt es mir«, bat ich.
»Sie wird gehängt werden.«
Lange sagte ich nichts. Ich musste das erst begreifen. Schließlich flüsterte ich: »Sie würde lieber verbrannt werden.«
Das Zimmer begann, vor meinen Augen zu verschwimmen.
»Ihr müsst jetzt ruhen«, sagte er liebevoll. »Denkt nicht an Schwester Christina. Es wird alles gut werden.«
Das Grau senkte sich wieder über mich.
Langsam erholte ich mich. Ich brauchte zwei Tage, um mich aufsetzen zu können, ohne ohnmächtig zu werden. Meine Arme und Beine waren unendlich schwach und wollten mir nicht gehorchen – es machte mich ungeduldig. Jeden Tag versuchte ich, ein wenig mehr zu schaffen. Mich aufzusetzen, die Arme zu heben und etwas zu greifen, erst mit der einen, dann mit der anderen Hand. Nach vielen Anstrengungen konnte ich endlich stehen, aber ich konnte nicht gehen. Es ängstigte mich, wie meine Beine einfach unter mir nachgaben.
Ich bekam Besuch. Wenn ich kräftig genug war, setzte sich immer eine Schwester zu mir und betete mit mir. Schwester Agatha musste ermahnt werden, dass es ungerecht von ihr sei, die ganze Besuchszeit für sich zu beanspruchen.
Die Priorin wollte mich nur im Beisein von Bruder Edmund sehen. Ihr Gesicht war sehr ernst, als sie sich zu mir ans Bett setzte, aber ohne eine Spur von Zorn oder Misstrauen.
»Ich glaube, wenn Ihr nicht in diesem Moment gekommen wärt, hätte sie mich getötet«, sagte sie. »Schwester Christina wollte meinem Leben ein Ende bereiten, das sagte sie mehrmals. Aber es war ungeheuer schwer für sie, die Priorin von Dartford zu töten. Die Erziehung, die sie hier genossen hatte, hatte ihre Wirkung getan, und selbst im Wahnsinn konnte sie sie nicht verleugnen. Sie hasste mich, aber zugleich respektierte und fürchtete sie mich. Sie betete um die Kraft, mich zu töten, als Ihr kamt.«
»Und Bruder Richard?«, fragte ich.
Die Priorin senkte den Kopf. Ich merkte, wie schwer es ihr fiel, darüber zu sprechen.
»Schwester Christina hielt mir das Messer an den Hals, als wir ihn durch den Gang kommen hörten. Er rief immer wieder: ›Priorin? Priorin?‹ Er schien große Sorge um mich zu haben. Ich wünschte mir verzweifelt, ich könnte ihn warnen. Wie seine Stimme klang, wie er nach mir rief – es will mir einfach nicht aus dem Kopf. Jede Nacht höre ich ihn, und jeden Tag …« Sie sprach nicht weiter. Erst nach einem längeren Schweigen fuhr sie zu sprechen fort. »Als er umdie Ecke bog, hat sie sich auf ihn gestürzt. Bruder Richard ist schnell gestorben.«
Danach saßen wir alle drei in stiller Trauer um Bruder Richard beisammen.
Schließlich räusperte sie sich. »Ich möchte mit Euch über Athelstans Krone sprechen.«
Ich wartete angespannt. Ein kurzer Blick zu Bruder Edmund zeigte mir, dass er ganz gelassen war. Natürlich, sie hatten schon miteinander gesprochen, während ich besinnungslos hier gelegen hatte.
»Die Kommissare Layton und Legh erklärten mir, sie seien sicher, Bischof Gardiner habe Euch beauftragt, das Kloster nach einer Reliquie zu durchsuchen, die die Athelstan-Krone genannt wird. Seit Jahren kursierten Gerüchte über ihre Existenz, sagten sie, und Cromwell habe in allen Klöstern nach ihr forschen lassen, insbesondere in Malmesbury, wo König Athelstan begraben liegt. Aber niemand habe etwas gefunden. Gewisse Berichte hätten sie nun zu der Annahme geführt, dass sich die Krone in Dartford befinde. Wenn
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