Die letzte Nonne - Bilyeau, N: Die letzte Nonne
Zu meinem Erstaunen errötete sie, als sie seinen Namen sagte. Einen Moment wandte sie sich ab, dann fügte sie hinzu: »Geoffrey hat mir alles über Euch erzählt.«
Das hätte mich nicht stören sollen, aber aus irgendeinem Grund tat es das doch.
»Er hat gesagt, Ihr seid ein ganz besonderer Mensch«, fuhr sie fort.
»Bin ich gar nicht«, sagte ich verdrossen.
Sie knabberte an ihrem Daumennagel. Ich bemerkte, dass alle ihre Fingernägel bis auf die Haut abgekaut waren. Sie hatte sich anfangs etwas trotzig gegeben, aber jetzt wurde sie traurig. »Gebt Ihr mir die Schuld, Schwester Joanna?«, fragte sie. »Ist alles, was hier im Kloster geschehen ist, meine Schuld?«
»Nein.«
Sie nickte, aber sie wirkte noch immer bedrückt.
»Ich finde«, sagte ich langsam, »dass wir die Zeit, die uns hier noch bleibt, nicht damit vertun sollten, einander Vorwürfe zu machen. Das Leben im Kloster Dartford ist etwas sehr Kostbares und Schönes. Wir sollten es hochhalten.«
Sie stand von ihrem Hocker auf. »In einem Punkt irrt Ihr, Schwester Joanna. Ihr
seid
ein ganz besonderer Mensch.«
Kapitel 48
Meine Genesung machte Fortschritte. Mit Anstrengung – und viel geduldiger Unterstützung von Bruder Edmund – schaffte ich es an einem Montagnachmittag, durch das ganze Hospital zu gehen. Am folgenden Tag ließ die Priorin mir ausrichten, dass ich zum Gottesdienst erwartet würde.
Meine Lebensgeister erwachten. Ich glaubte, was ich zu Schwester Beatrice gesagt hatte. Ich wollte beten und singen und der Liebe Christi leben. Mit Schwester Winifred auf der einen Seite und Schwester Agatha auf der anderen ging ich zur Kirche von Dartford.
Obwohl ich beim Gehen immer noch Schwierigkeiten hatte, besuchte ich an diesem Tag und am nächsten und am übernächsten jeden Gottesdienst. Die Beichte brachte mir Erleichterung und erfüllte mich mit Dankbarkeit. Und sie befreite mich von mancher Qual. Bruder Edmund erklärte mich für gesund genug, wieder im Dormitorium schlafen zu können. Es machte mich froh, wieder auf meinem alten Strohsack liegen zu können, auch wenn es mir fast das Herz zerriss, den leeren Strohsack gegenüber zu sehen, wo Schwester Christina geschlafen hatte.
Am nächsten Tag trat ich mit einer Bitte an die Priorin heran. »Könnten wir Schwester Helens Tapisserie vollenden, bevor Dartford geschlossen wird?«, fragte ich.
Sie sah mich sehr lange an. »Ja«, sagte sie dann, »wenn Ihr die Schwestern anleitet.«
»Das kann ich nicht«, widersprach ich erschrocken.
»Es gibt keine, die es besser könnte«, sagte sie mit Entschiedenheit. »Ihr seid eine außerordentlich begabte Novizin, Schwester Joanna. Eure Leistungen auf allen Gebieten – Latein, Mathematik, Musik, Nadelarbeit, Französisch, Spanisch – sind hervorragend.« Sie machte eine kleine Pause. »Ich habe Euch das noch nicht gesagt, weil ich fürchtete, es würde Euch Schmerz bereiten, aber die Priorin Elizabeth sagte einmal zu mir, sie sei überzeugt, dass Ihr mit Euren Fähigkeiten und Eurer Herkunft es schon in jungen Jahren zur Priorin bringen würdet. Sie sagte, sie halte Euch für brillant.«
Ich war überrascht, traurig – und unglaublich bewegt. »Danke, ich bin sehr dankbar zu hören, welches Vertrauen sie in mich setzte. Und ich danke auch Euch für Euer Vertrauen.«
Am nächsten Morgen öffneten Schwester Winifred und ich die Weberei, die seit dem Tod Schwester Helens geschlossen gewesen war. Der Webstuhl und der ganze Raum waren staubbedeckt. Nachdem wir gründlich saubergemacht hatten, ordnete ich die Seidengarne, die noch so auf dem Boden lagen, wie sie Schwester Helens Händen entfallen waren.
Bruder Edmund und ich hatten immer wieder unsere Mutmaßungen über die Tapisserien ausgetauscht. Es war jetzt klar, dass Schwester Helen nichts von der versteckten Krone gewusst hatte. Aber von den unterirdischen Gängen musste sie gewusst haben und ganz zweifellos von der räuberischen Lust Lord Chesters. Die Geschichten von Daphne und Persephone handelten beide von unschuldigen jungen Mädchen, die von einem Mann gejagt oder überwältigt wurden. Mit der Daphne-Tapisserie war Schwester Helen in ihrem Bemühen, die Welt wissen zu lassen, was in Dartford vorging, so weit gegangen, dem verfolgten Mädchen das Gesicht Schwester Beatrices und dem schützenden Flussgott die Züge der Priorin Elizabeth zu geben. Nach der Ermordung Lord Chesters musste Schwester Helen geahnt haben, dass Schwester Christina die Täterin war, das
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