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Die letzte Nonne - Bilyeau, N: Die letzte Nonne

Die letzte Nonne - Bilyeau, N: Die letzte Nonne

Titel: Die letzte Nonne - Bilyeau, N: Die letzte Nonne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nancy Bilyeau
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und gab mir einen feuchten Kuss auf die Wange. »Ich hab dich lieb, Schwester Joanna«, sagte sie in ihrem hellen Singsang.
    »Ich habe euch alle lieb«, sagte ich, dann brach mir die Stimme.
    Ethel sah mich erschrocken an.
    Ich löste Marthas Arme von meinem Hals und trat zurück. Mit einem letzten Winken ließ ich die Kinder in der Speisekammer zurück und ging ins Dormitorium.

Kapitel 23
    Am nächsten Tag verließ uns die Sonne.
    Das Wetter war schön gewesen in dieser letzten Oktoberwoche. Die Nachmittagssonne schien warm auf Gärten und Felder und brachte das überall angehäufte rote und orangefarbene Laub zum Leuchten. Die Schwestern füllten Körbe mit gelben Quitten, die an den Bäumen im Kreuzgang gereift waren. Morgens wehte der heimelige, leicht beißende Geruch von Herbstfeuern durch die Fenster herein.
    Aber am Vorabend zu Allerheiligen kam ein grimmig kalter Wind auf, der starken Regen brachte und die letzten Blätter von den Bäumen riss. An einem gewöhnlichen Tag wäre ich im Haus gewesen und hätte von dem hässlichen Wetter nicht viel gemerkt. Doch an diesem Morgen machte ich mich mit dem Brief an Bischof Gardiner im Ärmel meines Habits auf den Weg zur Scheune. Nachdem ich mich vergewissert hatte, dass ich nicht beobachtet wurde, stapfte ich zu dem ehemaligen Leprahospital am Nordwestrand des Klostergeländes, gleich hinter einem mit hohen Bäumen bestandenen Hügelkamm.
    Um meinen Habit vor dem Regen zu schützen, hatte ich einen Umhang angelegt. Ich hätte mir die Kapuze über den Kopf ziehen können, aber ich wollte den kalten Regen und den schneidenden Wind im Gesicht spüren.
    Mir war elend zumute. Ich hatte mein Schreiben an Bischof Gardiner abgefasst und versiegelt, es war erbärmlich kurz. Ich hatte nur mitteilen können, dass die Priorin Elizabeth am Morgen meiner Ankunft verstorben und ihr letztes Schreiben verschwunden war; dass es einem Bericht unserer ältesten Nonne zufolge in Dartford möglicherweise ein Geheimzimmer gab, das Prinz Arthur bei seinem kurzen Aufenthalt im Kloster im Jahr 1501 aufgesucht haben könnte; dass ich keine Ahnung hatte, wo dieser geheime Raum sich befand, er aber im vorderen, öffentlichen Teil des Klosters sein müsse, nicht in der Klausur; dass dort die Athelstan-Krone versteckt sein könnte. »Möglicherweise   … könnte   … müsse   …« Ich stellte mir vor, wie seinSekretär ihm das Schreiben reichte, wie er, ungeduldig auf Nachricht wartend, das Siegel erbrach und schon nachdem er die ersten Zeilen überflogen hatte, das Schreiben zornig von sich warf.
    Auf dem Hügelkamm blieb ich im Schutz der Bäume stehen. Ein rotes Eichhörnchen huschte vor mir davon, zornig, dass ich es aus seinem trockenen Unterschlupf im Gebüsch aufgescheucht hatte.
    Zu meinen Füßen lag in einer Mulde das Leprahospital. Es war schon lange vor meiner Zeit in Dartford aufgegeben worden, ich wusste nicht genau, wann. Vor zwanzig Jahren? Vor fünfzig oder hundert? Ein Teil des Dachs war eingestürzt. Durch einen breiten Riss in der hinteren Mauer konnte ich braunes Feld erkennen. Grüner Efeu hatte die leeren Fensterhöhlen überwuchert und seine Ranken in die verlassenen Räume ausgestreckt.
    Aber was war aus den Leprakranken geworden, diesen armen, geächteten Seelen? Waren sie in ein anderes Hospital gekommen und dort versorgt worden, oder waren sie verjagt worden, gezwungen, sich krank und verzweifelt irgendwo in London eine finstere Ecke zu suchen, wo sie sich verstecken konnten? Es gab niemanden, den ich hätte fragen können.
    Die Tränen in meinem Gesicht mischten sich mit dem Regen, während ich zu dem verlassenen Hospital hinunterblickte. In fünfzig Jahren würde vielleicht eine andere junge Frau das verlassene Kloster Dartford betrachten und sich fragen:
Was ist aus den Nonnen geworden, die einmal hier gelebt haben? Warum haben sie ihre Eltern verlassen und auf Ehe und Mutterschaft verzichtet, um an einem solchen Ort zu leben?
Und niemand würde übrig sein, um der Frau sagen zu können, wer wir waren und woran wir glaubten: Christus in Demut zu dienen, unseren Geist zu bilden, einander zu helfen und innere Einkehr zu üben.
    Auf halbem Weg den Hang hinunter stolperte ich und fiel auf die Knie. Unter den schweren Regengüssen hatte die Erde sich in Morast verwandelt. Den Rest des Weges ging ich vorsichtiger. Die Tür war längst aus den Angeln gerissen   – zweifellos, um als Brennholz zu dienen. Über dem Torbogen standen in Stein gemeißelt die Worte

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