Die letzte Nonne - Bilyeau, N: Die letzte Nonne
verletzen, wir liebten und achteten sie, aber wir mussten ein von ihnen getrenntes Leben führen.
Bei dem Gedanken an Schwester Christinas Vater musste ich an meinen eigenen denken, und das Brot in meinem Mund wurde zu Staub. Ganz gleich, ob wir zusammen oder getrennt lebten, er war meine ganze Familie. Ich fürchtete um sein Leben in der gnadenlosen Gefangenschaft des Tower, jenes Orts, der mich in meinen Träumen heimsuchte. Doch seine Befreiung war keinen Schritt näher gerückt. Ich hatte Bischof Gardiner ja kaum etwas zu berichten. Ich hatte meinen Vater im Stich gelassen.
Schwester Agatha glaubte wohl, leise zu sprechen, aber ihre knarrende Stimme war auch mehrere Tische entfernt nicht zu überhören.
»Nein«, sagte sie, »wir haben nie zuvor ein Festmahl im Kloster abgehalten, aber wir hatten Besuch von Mitgliedern der königlichen Familie. Als die Königinmutter vor vielen Jahre Schwester Bridget hier besuchte, wird man ihr wohl Speise und Trank angeboten haben. Es könnte also ein Präzedens gegeben haben.«
Ich sah Schwester Anne den Kopf schütteln. Unsere älteste Nonne saß Schwester Agatha an dem langen Holztisch gegenüber. Sie sagte etwas zu der Novizinnenmeisterin, aber sie sprach so leise, dass ich nur die Worte »Prinz Arthur« verstehen konnte.
Ich fuhr auf der harten Holzbank zusammen. Natürlich – Schwester Anne! Ich rechnete, ja, es war möglich, dass sie 1501, beim Besuchder Königin mit Prinz Arthur und seiner jungen Gemahlin, Katharina von Aragón, schon in Dartford gelebt hatte.
Sobald Schwester Anne vom Tisch aufstand, sprang ich auf und eilte zu ihr. Einige Schwestern runzelten missbilligend die Stirn – von den Novizinnen wurde erwartet, dass sie unter sich blieben –, aber dies schien mir die einzige Gelegenheit, noch heute Abend mit Schwester Anne zu sprechen.
»Schwester Anne?« Ich verneigte mich respektvoll.
Sie war vom Alter gekrümmt, ihr erschlafftes Gesicht voller Runzeln, aber sie sah mich lächelnd an. »Oh, Schwester Joanna, seid Ihr wohlauf?«
»Ja, danke, Schwester. Darf ich mit Euch zusammen zur Vesper gehen? Ich würde es hoch schätzen.«
Sie überlegte einen Moment angesichts der Blicke der anderen Schwestern. Ich bemerkte, dass ihr Habit aus Leinen war, nicht aus dem groben Wollstoff, den alle anderen trugen. Bei hohem Alter konnten Nonnen die Erlaubnis erwirken, leichtere Stoffe zu tragen, die der Haut angenehmer waren.
Schließlich lächelte sie wieder. »Natürlich, Schwester Joanna. Begleitet mich.«
Sobald wir im Korridor außer Hörweite der anderen waren, sagte ich: »Schwester Anne, ich möchte so gern mehr über die frühen Zeiten unseres Klosters wissen. Ich hörte, wie Schwester Agatha vom Besuch des Prinzen Arthur sprach. Wart Ihr damals schon in Dartford?«
»O ja, ich war hier.« Ein Schatten der Trauer flog über ihr Gesicht. »Ich bin die Einzige, die übriggeblieben ist. Er kam mit seiner Mutter, Königin Elisabeth. Das war Ende 1501. Er war erst fünfzehn Jahre alt.«
»Habt Ihr ihn gesehen?«
»Nein, nein. Die alte Königin traf sich mit Schwester Bridget immer im Lokutorium. Als sie ihren Sohn und ihre Schwiegertochter mitbrachte, hielten sie sich nur dort auf.«
Ich war enttäuscht. Wir gingen am Necessarium vorbei weiter den Gang hinunter. Hinter uns hörte ich die geräuschvollen Schritte der anderen Schwestern.
»Ich erinnere mich, dass damals eine Schwester hier war«, fuhrSchwester Anne fort, »die den Prinzen unbedingt mit eigenen Augen sehen wollte. Wie hieß sie nur gleich?« Sie dachte nach. »Ah ja, Schwester Isabel. Sie war vielleicht nicht recht geeignet für das klösterliche Leben. Sie war sehr – lebenslustig. Sie überredete den Pförtner, sie in die vorderen Räume des Klosters zu lassen. Später erzählte sie mir, sie hätte den Rücken von Prinz Arthur gesehen, als er zum Tor hinausritt. Er habe blondes Haar gehabt, sagte sie, und seine Gemahlin, Prinzessin Katharina, sei rothaarig gewesen.«
Schwester Anne lachte leise. Ich zwang mich zu einem Lächeln.
»Schwester Isabel hatte die merkwürdigsten Ideen«, meinte sie sinnend. »Sie hat noch etwas über den Besuch erzählt, irgendetwas davon, dass der Prinz verschwunden sei.«
»Was?« Meine Stimme schallte laut durch das steinerne Gewölbe. Ich fasste mich schnell und sagte leiser: »Das ist ja interessant, darüber würde ich wirklich gern mehr hören, Schwester Anne.«
»Ich gebe so albernes Geschwätz nicht gern weiter«, sagte sie.
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