Die letzte Odyssee
es.«
Leise Musik umspülte ihn wie mit sanften Wellen; das Stück war sehr bekannt, es stammte aus seiner eigenen Zeit, aber er kam nicht auf den Titel. Ein Schleier hing vor seinen Augen, doch als er darauf zuging, teilte er sich …
Ja, er ging! Die Illusion war vollkommen; er spürte, wie seine Füße den Boden berührten, dann verstummte die Musik, er hörte das leise Rauschen des Windes, sah sich von hohen Bäumen umgeben, die ihm bekannt vorkamen. Es waren kalifornische Riesensequoien. Hoffentlich wuchsen sie tatsächlich noch irgendwo auf der Erde.
Er ging ziemlich rasch – rascher, als ihm lieb war, als würde die Zeit ein wenig beschleunigt, damit er so schnell wie möglich vorankäme. Aber er hatte nicht das Gefühl, sich anzustrengen, sondern kam sich eher vor, als sei er in einem fremden Körper zu Gast, ein Eindruck, der noch dadurch verstärkt wurde, daß er keine Kontrolle über seine Bewegungen hatte. Wenn er stehenbleiben oder die Richtung ändern wollte, passierte nichts. Er mußte einfach mit.
Aber das war nicht weiter schlimm; Poole genoß die neue Erfahrung – und konnte sich durchaus vorstellen, daß man danach süchtig wurde. Die ›Traummaschinen‹, die viele Wissenschaftler seines Jahrhunderts – oft mit Schrecken – vorausgesehen hatten, waren heute Teil des Alltags. Ein Wunder, dachte Poole, daß die Menschheit diese Entwicklung überlebt hatte: Allerdings hatte er schon erfahren, daß es dabei auch Opfer gegeben hatte. Millionen waren elend an Gehirnüberhitzung zugrunde gegangen. Er würde dieser Versuchung natürlich nicht erliegen! Er würde dieses wunderbare Instrument nur gebrauchen, um mehr über die Welt des vergangenen dritten Jahrtausends zu erfahren und sich in Minutenschnelle neue Fähigkeiten anzueignen, für die er sonst Jahre gebraucht hätte. Nun ja – hin und wieder schadete es sicher auch nichts, mit der Kappe ein wenig Spaß zu haben …
Er hatte den Waldrand erreicht und stand nun vor einem breiten Fluß. Ohne zu zögern watete er ins Wasser und erschrak auch nicht, als es über seinem Kopf zusammenschlug. Sonderbar war es schon, daß er immer noch normal atmen konnte, aber viel mehr verblüffte ihn sein Sehvermögen in diesem Medium, in dem sich das bloße Auge normalerweise nicht scharfstellen konnte. Er konnte jede Schuppe der prächtigen Forelle zählen, die, offenbar ohne den Eindringling zu bemerken, an ihm vorüberschwamm.
Eine Meerjungfrau! Diese Wesen hatten ihn schon immer interessiert, aber er hatte geglaubt, sie lebten nur im Meer. Vielleicht wanderten sie gelegentlich die Flüsse herauf – wie die Lachse – um ihre Kinder zu bekommen? Die Nixe war verschwunden, bevor er sie bitten konnte, seine revolutionäre Theorie zu bestätigen oder zu widerlegen.
Der Fluß endete an einer glasklaren Wand. Als Poole sie durchschritt, stand er in einer Wüste unter gleißender Sonne. Die Mittagsglut brannte auf der Haut – aber er konnte in die grelle Scheibe sehen, ohne zu blinzeln. Mit seinem übernatürlich geschärften Blick unterschied er an einem Ausläufer sogar ein Sonnenfleckenarchipel. Und zu beiden Seiten – das war doch wohl nicht möglich! – breitete sich schwanenflügelgleich der zarte Schein der Korona aus, der sonst nur bei totaler Sonnenfinsternis zu erkennen war. Die Farben verblaßten, alles wurde schwarz: Die schwermütige Musik setzte wieder ein, Poole spürte die angenehme Kühle des vertrauten Zimmers. Als er die Augen aufschlug (hatte er sie überhaupt geschlossen?), sah er sich einem erwartungsvollen Publikum gegenüber.
»Großartig!« hauchte er andächtig. »Manches war – wirklicher als die Wirklichkeit!«
Dann gewann der Ingenieur in ihm die Oberhand und stellte die Fragen, die ihn bewegten.
»Selbst diese kurze Demonstration enthält doch eine ungeheure Datenmenge. Wie wird sie gespeichert?«
»Auf diesen Täfelchen – auch ihr audiovisuelles System arbeitet damit, nur ist hier die Speicherkapazität sehr viel größer.«
Der Hirnklempner reichte Poole eine kleine, auf einer Seite verspiegelte Platte aus glasähnlichem Material, fast so groß wie die Computerdisketten seiner Jugend, aber zweimal so dick. Poole drehte sie hin und her, um ins Innere zu schauen, erzeugte aber nur hin und wieder einen Regenbogenblitz.
Was er da in der Hand hielt, war das Endprodukt einer mehr als tausendjährigen Entwicklung auf dem Gebiet der Elektrooptik – und anderer technischer Verfahren, die es zu seiner Zeit noch gar nicht
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