Die letzte Odyssee
Flickwerk von Zeitzonen einfach hinweggefegt. Im 21. Jahrhundert war die Frage häufig diskutiert worden, man hatte sogar den Vorschlag gemacht, die Solarzeit durch Sternenzeit zu ersetzen. Dann hätte sich die Sonne im Lauf eines Jahres rund um die Uhr bewegt und wäre zur gleichen Zeit untergegangen, zu der sie sechs Monate vorher aufgegangen war.
Dieser Plan ›Gleiche Zeit unter der Sonne‹ war jedoch wie andere, nicht weniger lautstark propagierte Versuche einer Kalenderreform im Sande verlaufen. Eine Lösung dieses Problems, so sagten zynische Stimmen, müsse auf sehr viel größere technische Fortschritte warten. Eines Tages würde man Gottes kleinen Fehler sicher korrigieren und die Erdumlaufbahn so verändern können, daß jedes Jahr sich auf zwölf Monate mit dreißig genau gleichen Tagen belaufe …
Soweit Poole nach Geschwindigkeit und Fahrzeit schätzen konnte, hatten sie mindestens drei Kilometer zurückgelegt, bevor die Bahn lautlos anhielt, die Türen aufgingen und eine Automatenstimme höflich sagte: »Genießen Sie die Aussicht. Die Bewölkung beträgt heute fünfunddreißig Prozent.«
Wenigstens, dachte Poole, nähern wir uns jetzt endlich der Außenwand. Aber schon war er auf ein neues Rätsel gestoßen – die Schwerkraft hatte weder ihre Stärke, noch ihre Richtung verändert, obwohl er sich erheblich von der Stelle bewegt hatte! Eine rotierende Raumstation, die so riesig war, daß der g-Vektor bei einer Verschiebung dieser Größe gleichblieb, konnte er sich nicht vorstellen … War er vielleicht doch auf einem Planeten? Aber auf jeder anderen bewohnbaren Welt im Sonnensystem müßte er leichter – sogar sehr viel leichter sein.
Als sich die Außentür der Endstation öffnete und Poole die kleine Luftschleuse betrat, wurde ihm klar, daß er sich tatsächlich im Weltall befand. Aber wo waren die Raumanzüge? Nervös sah er sich um: Es war ihm körperlich zuwider, nackt und ohne jeden Schutz nur durch eine dünne Wand vom Vakuum getrennt zu sein.
Eine
derartige Erfahrung hatte ihm vollauf genügt …
»Wir sind fast da«, beruhigte ihn Indra.
Die letzte Tür glitt auf, er stand vor einem riesigen, horizontal und vertikal gewölbten Fenster und blickte hinaus in die absolute Finsternis des Weltalls. Er kam sich vor wie ein Goldfisch in seiner Glaskugel. Hoffentlich hatten die Konstrukteure dieses kühnen technischen Wunderwerks gewußt, was sie taten. Auf jeden Fall gab es heute besseres Baumaterial als damals zu seiner Zeit.
Da draußen schienen sicher die Sterne, doch seine Augen hatten sich noch nicht umgestellt, und so sah er hinter der riesigen Fensterlinse nur schwarze Leere. Als er nähertreten wollte, um seinen Blickwinkel zu vergrößern, hielt Indra ihn zurück und streckte die Hand aus.
»Schauen Sie genau hin«, sagte sie. »Sehen Sie es nicht?«
Poole kniff die Augen zusammen und starrte in die Nacht hinein. Das mußte eine Täuschung sein oder – Gott bewahre! – das Glas hatte einen Sprung!
Er drehte den Kopf von einer Seite zur anderen. Nein. Seine Augen hatten ihn nicht getrogen. Aber was konnte es dann sein? Unwillkürlich kam ihm Euklids Definition einer Geraden in den Sinn: ›Eine nach beiden Richtungen unbegrenzte Linie ohne Krümmung‹.
Denn über die gesamte Höhe des Fensters zog sich ein Lichtfaden, der sich offenbar nach oben und nach unten fortsetzte. Wenn man gezielt danach suchte, war er gut zu erkennen, aber er war so eindimensional, daß selbst ›dünn‹ als Beschreibung nicht genügte. Dennoch war der Faden nicht völlig einheitlich: In unregelmäßigen Abständen waren immer wieder hellere Flecken zu erkennen – wie Wassertropfen an einem Spinnenfaden.
Poole näherte sich dem Fenster, und der Blick weitete sich, bis er schließlich sehen konnte, was unter ihm lag. Das Bild war ihm vertraut – der ganze Kontinent Europa und ein großer Teil des nördlichen Afrika – er hatte es oft genug aus dem Weltraum gesehen. Also war er doch im All – wahrscheinlich auf einem äquatorialen Orbit in mindestens tausend Kilometern Höhe.
Indra beobachtete ihn mit spöttischem Lächeln.
»Treten Sie ganz dicht ans Fenster«, sagte sie leise. »Damit sie gerade nach unten schauen können. Hoffentlich sind Sie schwindelfrei.«
Was für ein Unsinn, er war doch Astronaut! Poole ging weiter. Wenn ich jemals unter Höhenangst gelitten hätte, wäre ich nicht in diesem Beruf …
Bevor er den Gedanken noch zu Ende geführt hatte, zuckte er zurück und schrie:
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