Die letzte Offenbarung
schlanke, biegsame Körper einer Balletttänzerin, einer Elfe, einer Nymphe. Bewundernd lag Amadeos Blick auf dem feinen Spiel ihrer Glieder.
Rebeccas Ellenbogen erwischte ihn exakt unterhalb der gebrochenen Rippe. Keuchend fing er sein Stolpern ab.
»Die Stufen sind etwas ausgetreten«, entschuldigte sich Mafalda, ohne sich umzusehen. »Ich finde, das schafft Atmosphäre.« Sie drückte eine mit verschwenderischen Intarsien verzierte Holztür auf, die vom Hof aus unsichtbar gewesen war. »Kommen Sie rein«, bat sie lächelnd, und ihre Stimme hallte aus mehreren Richtungen zurück.
Das Foyer, das sie betraten, war mindestens fünfzehn Meter hoch. Direkt vor ihnen zogen sich die Treppen zur ersten Etage empor, wo eine weitere Balustrade rund um den Raum führte. Eine gläserne Kuppel krönte die Halle. Das allmählich blasser werdende Licht des Nachmittags fiel durch das Glas.
»Ohne Strom muss man sich was einfallen lassen«, erklärte Mafalda, die Amadeos Blick gefolgt war. Sie wandte sich nicht zu den Treppen, sondern nach rechts und legte unterwegs die Handfläche auf einen Bereich der hölzernen Wandverkleidung. Amadeo erkannte, wie rund um ihre Hand ein Spalt entstand, und im nächsten Augenblick öffnete sich ein verborgenes Fach in der Wand. Mafalda zog es vollständig auf.
Neugierig trat er näher. »Was ist das?«, fragte er.
In der Wand versteckt befand sich eine verwirrende Zahl von Hebeln, Rädchen und kleinen Skalen. Geschickt huschten Mafaldas Finger über die Instrumente. »Sie glauben nicht, was ohne Strom alles möglich ist«, erläuterte sie. »Die Menschen, die dieses Palais erbaut und es nach und nach umgestaltet und erweitert haben, wussten Annehmlichkeiten sehr wohl zu schätzen. Zumindest das, was in ihrer Zeit möglich war. Wir haben uns an diese Tradition gehalten, als wir die Arbeit fortsetzten. Wasser, Dampf«, langsam drehte sie im Uhrzeigersinn ein großes Rad im Zentrum des Instrumentariums, und Amadeo hörte, wie in den Tiefen des Gebäudes eine Maschine zu wummerndem Leben erwachte. »Gas«, fuhr Mafalda fort und legte einen Hebel um. Bläuliche Gaslichter flammten auf, eingeschlossen in hohen, gläsernen Kolben, die in regelmäßigen Abständen entlang der Wände befestigt waren.
Amadeo kniff sich unauffällig in den Handrücken. Nein, er träumte nicht. Er kam sich vor, als wäre er in einem Roman von Jules Verne gelandet, in Kapitän Nemos Nautilus vielleicht. Die beiden Frauen bildeten einen seltsamen Kontrast zu der Szenerie: Rebecca trug ihre Dockers, dazu einen gerade geschnittenen, dunklen Cordrock und eine schwarze Bluse. Daneben Mafalda, geschmeidig wie eine Katze im glänzenden Lycra, das ihren schmalen, zugleich aber durchtrainierten Körper umgab wie eine zweite Haut.
Die Gastgeberin führte sie in einen eleganten Salon von merkwürdigem Grundriss. Der Raum war ein regelmäßiges Fünfeck und in einen Erker des Hauses gebaut, so dass drei hohe Fenster hinaus auf die Blutbuchen wiesen und auf die Hänge des Petřín jenseits davon. Mafalda berührte eine Stelle neben der Tür, und sofort glommen auch in den Ecken dieses Raumes dezente Gasleuchten auf.
Die Ausstattung bestand aus Louis-Seize-Mobiliar: poliertes, dunkles Holz. Allein der schmale Sekretär gleich rechts neben der Tür musste ein Vermögen wert sein. Offenbar erledigte Mafalda hier tatsächlich ihre Korrespondenz, denn Amadeo entdeckte Briefbögen, ein Tintenfass samt schneeweißer Schreibfeder und eine Handvoll schwerer, ledergebundener Folianten. Er bemühte sich, nicht zu deutlich auf die Bücher zu starren. Jedes davon konnte der Isidor sein.
»Bitte nehmen Sie Platz.« Mafalda wies auf eine Chaiselongue, die unter dem mittleren Fenster aufgestellt war. Sie selbst ließ sich auf einem Arbeitsstuhl vor dem Sekretär nieder und drehte sich zu ihren Gästen.
In der Luft lag der Hauch eines unbekannten Duftes, den Amadeo nicht einordnen konnte. Waren das irgendwelche Kräuter und Essenzen, an die er sich aus seiner Kindheit erinnerte? Ganz sicher war es nicht der Weihrauch, den er bei den Nonnen in Köln gerochen hatte.
Rebecca überließ Amadeo den Platz an der angeschrägten Lehne der Chaiselongue, setzte sich selbst an das flache Ende und balancierte ihren Notizblock auf den Knien. Amadeo betrachtete abwechselnd die Gestalt der Sängerin und die Spiegelreflexkamera in seiner Hand, an der er Blende und Belichtungszeit manuell einstellen musste. Er hatte erhebliche Zweifel, ob da ein brauchbares
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