Die letzte Offenbarung
Sehnsucht nach der officina , nach der konzentrierten Arbeit in der Via Oddone, nur einen Steinwurf vom Trubel an der Porta San Paolo entfernt und dennoch ruhig, abgehoben vom ewigen Alltagschaos Roms. Er versuchte das Vorsatzblatt zu entziffern, doch er hatte Mühe, in dem Wust von barocken Schnörkeln die Buchstaben auch nur auszumachen. Dann blätterte er weiter, und die Kanzleischrift auf den folgenden Seiten war ohne Mühe lesbar. Lateinische Notizen, ein Verzeichnis, eine Auflistung, ab und zu eine Abkürzung, die ihm unbekannt war, und ein Ausdruck in — wie er vermutete — tschechischer Sprache.
»Das ist ein Katalog«, sagte er. »Ein alter Bibliothekskatalog.«
Madame Istvana nickte. »Bücher, zusammengetragen von Generationen und Generationen, alle miteinander gehütet und bewahrt, weitergegeben vom Vater auf den Sohn, auf den Enkel und Urenkel. Meine Familie, meine Vorfahren.«
»Ihre Vorfahren?« Amadeo sah sie an. »Hier? Das hier war das Haus Ihrer Vorfahren?«
»Sie lebten schon hier, als noch die alten Könige herrschten. Przemysl und seine Ahnen, lange vor Karl, lange vor den Deutschen, ganz gleich, wie sie sich nannten.«
»So alt ist dieses Gebäude doch gar nicht«, widersprach Amadeo. »Ich rede nicht von den neuen Teilen...« Verwirrt hielt er inne. »Das hier ist nach Ihren Plänen entstanden?«
»Dieses Haus hat viele Formen gehabt über die Jahrhunderte, und immer haben Menschen darin gelebt — in ihrer Zeit und so, wie es ihnen behagte. In meines Vaters Haus gibt es viele Wohnungen, und das ist auch gut so. Mit dem, was die Menschen in Ihrer Zeit tun, nehmen sie den alten Dingen ihr Alter. Sie fuhrwerken so lange an ihnen herum, bis sie glauben herausgefunden zu haben, wie sie einmal waren. Dann zwingen sie die Dinge, genau so auszusehen, wie sie glauben, dass sie ausgesehen haben. Damit verlieren sie ihren Zauber.«
»Ich weiß nicht, wovon Sie reden«, murmelte Amadeo, »ich bin Restaurator, und ich muss...«
»Sie wissen sehr gut, wovon ich rede«, sagte die Stimme leise, aber unbeirrt. »Dies war einmal eine große Bibliothek, und nun ist sie zerstreut. Dennoch hält sie etwas...« Die Stimme schwankte unvermittelt.
Was hat sie?, dachte Amadeo und spürte, wie sich etwas regte. Es war... Es war Rebecca. Sie war doch gar nicht hier! Irgendetwas hielt ihn umklammert, und er kämpfte dagegen an, doch was immer ihn fesselte — noch war es stärker als seine Gegenwehr.
Die Stimme fuhr fort: »Trotzdem hält sie etwas fest. Die Bücher gehören hierher — und auch an einen neuen, einen anderen Ort.«
»Wo sind sie jetzt?«, fragte Amadeo. »Wie kommen wir an sie heran? Sie wollen uns doch helfen, Madame Istvana?«
»Sie sollen den Isidor finden«, sagte die Alte. »Darum sind Sie gekommen, darum sind Sie hier.«
»Wo liegt der Codex?«
»Gar nicht weit von hier«, murmelte Mafaldas Meisterin. »Nein, ganz nahe, die ganze Zeit. Die ganze, lange Zeit.«
Sie schloss die Augen. Der seltsame Geruch im Raum... Amadeo war, als ob er sich verstärkte, und auf einmal wurde ihm klar, woher er diesen Geruch kannte: aus Oxford. Nicht von ihrem kurzen Besuch vor ein paar Tagen, der Sheldon zum Verhängnis geworden war, sondern aus seiner Studentenzeit. Einer der Kommilitonen in seinem College hatte da ein Zeug geraucht, das ganz ähnlich roch. Amadeo schüttelte sich. Schon damals war ihm übel davon geworden, wenn er nur daneben saß. Hier war der Geruch geradezu überwältigend, und er wurde immer stärker.
Als Madame Istvana weitersprach, war ihm, als würden die Dinge, von denen sie berichtete, lebendig vor seine Augen treten, wie ein verwackelter Stummfilm, der sich zu ihren Worten vor seinen Augen abspielte.
»Es geschah nach der Schlacht am Weißen Berg«, berichtete die Alte. »Die Rache der Sieger war fürchterlich. Die großen, die stolzen Familien des böhmischen Adels im Staub, gedemütigt, ihre Häupter verurteilt zum Tode, auf den Großen Ring der Altstadt geführt wie gemeine Verbrecher. Cappleri, Jessenius, Schlick und auch er: Othkar Hrabi Znaiminski, mein Vorfahr. Ein Aufschrei des Entsetzens, so heißt es, ging durch die Menge, als das Schwert des Henkers sein Haupt vom Rumpf trennte.«
Amadeo konnte seinen eigenen Aufschrei nicht unterdrücken. Der Geruch der Droge, die Bilder, die auf seinen Verstand einstürmten — das war alles zu viel.
»Am selben Tag drangen sie in sein Haus ein«, hörte er Madame Istvana sagen. »Sie stürzten sich auf die Schätze, die
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