Die letzte Offenbarung
Schattenfinger aus. Amadeo hielt sich ganz links, am Rande der gekiesten Zufahrt, und gab auf jeden Schritt acht.
»Was tust du da?«, fragte Rebecca verwundert.
»Ich«, er senkte den Blick, »versuche, nicht auf die Schatten zu treten.«
»Hm«, machte sie nur.
Amadeo blickte auf. Jetzt hatte er eine spitze Bemerkung erwartet.
»Keine schlechte Idee«, sagte sie und schloss sich ihm an.
»Dir gefallen sie auch nicht«, stellte Amadeo fest und bemerkte, dass er flüsterte. »Die Bäume.«
»Na ja.« Ihre Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen, und sie spähte hinauf in die Wipfel. »Ich hab auch noch nie so blutige Blutbuchen gesehen.«
»Die sind unheimlich«, sagte Amadeo leise. »Dieses ganze Gelände ist unheimlich. Wenn du mich fragst, sollten wir ganz schnell verschwinden.«
Rebecca sah ihn an. »Wenn ich dich fragen würde, ob wir nicht besser wieder verschwinden, müsstest du mir auch verraten, wie wir dann an den Isidor kommen sollen.«
»Nicht so laut!«, zischte er.
»Keine Elektrizität«, Rebecca breitete die Hände aus, »keine Abhöranlagen.«
»Vielleicht braucht diese Istvana die gar nicht«, flüsterte Amadeo. »Vielleicht kann sie das mit ihrer... So wie das Tor.«
»Wenn sie das kann, dann weiß sie sowieso, warum wir hier sind, ob wir nun darüber sprechen oder nicht.«
»Hast du denn gar keine Angst?«, fragte er.
Sie blieb stehen und betrachtete ihn. »Klar hab ich Angst, und ich weiß genau, wovon ich rede. Glaub mir, ich hab zu Hause ein paar sonderbare Dinge gesehen. Was damals halt gerade zu Hause war. Bei den Mestizen und Mulatten gibt es eine Reihe ziemlich verwirrender Bräuche.« Sie schob sich an ihm vorbei und ging weiter auf das Haus zu.
»Solche Bräuche gibt es in Italien auch!«, protestierte Amadeo.
»Na, dann ist ja alles bestens.« Unvermittelt blieb sie stehen.
Amadeo konnte so schnell nicht bremsen. »Was zum... ?«
»Still!«, zischte sie. »Hörst du das?«
Er lauschte. Eine Nachmittagsbrise spielte im Laub, dazwischen das Zwitschern von Vögeln, die offenbar weniger empfindlich waren für die seltsame Atmosphäre dieses Ortes. »Ich höre nichts Besonderes«, sagte er leise.
»Das ist eine Nachtigall«, flüsterte sie.
Wieder lauschte er. »Klingt hübsch. Ist das«, er schloss die Augen, »normal, dass sie jetzt singt? Tagsüber?«
»Eigentlich nur während der Brutzeit«, sagte Rebecca leise, »und die ist lange vorbei.«
Automatisch waren sie jetzt doch in die Schatten unter den Bäumen zurückgewichen. Die Villa Tepesz erhob sich vielleicht hundert Meter entfernt jenseits einer weiß gekiesten Hoffläche. Eine aufwendige Freitreppe stieg rechts und links in geschwungenen Bogen zu einer dem Gebäude vorgelagerten Terrasse auf. Exotische Stauden blickten über eine marmorne Balustrade, hinter der sich ein klassizistischer Portikus ins Innere des Gebäudes öffnete. Der Gesang der Nachtigall kam von links, von einem Seitentrakt der Villa her, auf den die Blutbuchen jedoch den Blick versperrten.
Vorsichtig gingen sie weiter, bis sie den Rand des Baumgürtels erreichten. Rebecca hielt inne, und Amadeo wollte sich vorsichtig an ihr vorbeischieben, als ihre Hand sich urplötzlich wie ein Schraubstock um seine Schulter schloss. Er keuchte vor Schmerzen. Seine rechte Schulter! Ausgerechnet die, die sich immer verspannte.
»Da drüben!« Rebecca deutete mit dem Kinn nach vorn.
Da war eine Gestalt, eine Frau in einem... Was war das? Es sah aus wie ein Reitkostüm aus dem neunzehnten Jahrhundert. Der dunkle Rock war über den Hüften geschnürt und über dem Hintern zu einem Schößchen aufgebauscht. Das Haar trug die Frau offen, doch obenauf saß ein hoher Reitzylinder, wie Damen von Stand ihn vielleicht zu Kaiserin Sissis Zeiten getragen hatten.
»Ist das Mafalda?«, flüsterte Amadeo.
Die Frau kam aus Richtung der Villa ins Freie und blickte sich nach allen Seiten um, ohne Amadeo und Rebecca in den Schatten zu entdecken. Sie blieb stehen, schaute noch einmal nach allen Seiten. Ging schließlich noch einen Schritt.
»Sie hört es auch«, sagte Rebecca leise und kniff wieder die Augen zusammen. »Ja, das ist Mafalda. Sie sieht schmaler aus als in der Presse, und sie hat die Haare dunkel gefärbt.«
Amadeo war sich nicht ganz sicher. So genau hatte er sich die Fotos nie angesehen. Doch wenn Rebecca behauptete, dass sie es war, dann...
Ein Schatten! Ein Schatten löste sich aus den Bäumen. Eine menschliche Gestalt, dann eine zweite! Waffen in
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