Die letzte Offenbarung
Bild herauskommen würde. Schließlich hob er die Kamera und richtete sie auf Mafalda. Langsam drehte er am Objektiv, bis die beiden senkrechten Striche im Okular sich in Deckung befanden. So wurde das fokussierte Objekt scharf. Er hatte das alles einmal gewusst, doch im Zeitalter der digitalen Fotografie — wie Bracciolini es so schön ausgedrückt hatte — vergaß man solche Dinge rasch.
»Wollen Sie... so?«, fragte er vorsichtig.
»Sie werden mir eine Erklärung unterschreiben«, verkündete Mafalda ernst. »Keines dieser Bilder gelangt an die Öffentlichkeit ohne meine ausdrückliche schriftliche Zustimmung.« Sie stand auf und wandte Amadeo den Rücken zu. »Wären Sie wohl so gut?«
Sie hob das Schößchen ihres Rocks ein Stück an und brachte einen versteckten Reißverschluss zum Vorschein. Zitternd streckte Amadeo die Hand aus und zog ihn Zentimeter um Zentimeter auf. Seine Finger waren eiskalt. Rebecca ließ ihn nicht aus den Augen. Mafalda streifte den Rock ab, strich ihn sorgfältig glatt und legte ihn über die Stuhllehne, bevor sie sich wieder niederließ. Elegant schlug sie die Beine übereinander. Es waren perfekte Beine, schlank an den Fesseln, unglaublich lang, aber nicht mager und stakselig. Kein Mensch im Showbusiness hatte solche Beine.
»Miss Ruskowskaja«, begann Rebecca geschäftsmäßig, »als Sie vor ziemlich genau einem Jahr über Nacht Ihren Ausstieg aus dem Musikgeschäft verkündeten, wurde allerhand gemunkelt. Sie wollten sich in eine neue Richtung entwickeln, hieß es, aber Sie haben das bis heute nicht bestätigt. Ist das, was wir da draußen gesehen haben — der Film —, ist das diese neue Richtung?«
Mafalda überlegte einen Augenblick. »Möchten Sie einen Kaffee?«, fragte sie anstelle einer Antwort.
»Sehr gern«, erwiderten Amadeo und Rebecca wie aus einem Mund und grinsten einander an.
Anscheinend war das Grinsen ansteckend. »Ich kann auch einen gebrauchen«, sagte Mafalda lächelnd und griff nach einer geflochtenen Kordel, die in Armreichweite von der Decke hing.
Amadeo hörte das Geräusch eines leisen Gongs, mehrere Zimmer entfernt.
»Ja«, fuhr Mafalda fort, »das ist ein Teil der neuen Richtung. Wissen Sie...« Mit der Hand fuhr sie sich durch das asymmetrisch geschnittene blonde Haar: der typische Mafalda-Look, seit einigen Jahren eines ihrer Markenzeichen. »Im Leben eines jeden Menschen gibt es Zeit für Veränderungen. Ich habe das fast zehn Jahre lang gemacht: Album, Tournee, Album, Tournee — das ging so nicht weiter. Doch ich hatte Glück, denn ich traf einen sehr wichtigen Menschen.«
»Madame Istvana«, bemerkte Rebecca.
Mit einer Geste bestätigte Mafalda. »Das war ein neuer Blick, der sich mir eröffnete, die Fähigkeit, die Welt im Ganzen zu sehen, über den nächsten Tag hinaus. Nur so war für mich der Entschluss möglich, einfach zu sagen: Stopp, jetzt mach ich etwas anderes, soll die Welt doch damit klarkommen.«
»Sie wissen, dass viele Menschen — und die allermeisten Ihrer Fans — sich einen solchen Luxus nicht erlauben können«, sagte Rebecca mit fragender Miene.
Für einen Moment zuckte es in Mafaldas Gesicht, dann nickte sie. »Das weiß ich. Ihnen ist klar, dass ich vor ein oder zwei Jahren das Gespräch an dieser Stelle abgebrochen hätte? Aber auch das ist etwas, das ich in den letzten Monaten gelernt habe.«
»Sie wollten etwas Neues machen«, knüpfte Rebecca an. »Das bedeutet neue Interessen, über das Berufliche hinaus, neue Perspektiven? Womit verbringen Sie Ihren Tag, wenn Sie nicht gerade einen Film drehen?« Sie blickte über Mafaldas Schulter. »Sie lesen viel?«
Geschickt gemacht, dachte Amadeo. Schließlich ging es ihnen um den Isidor. Allerdings war ihm noch immer schleierhaft, wie Rebecca an das Buch kommen wollte.
»Ach die«, Mafalda sah sich zu den Codices um, »das sind gar nicht meine Bücher.«
Amadeo hob die Kamera und richtete sie auf ihre Gastgeberin. Ein leises Sirren war zu hören, während der Blitz sich auflud, das Geräusch wurde erst höher, verstummte dann. Der Fotoapparat war bereit, und Amadeo drückte den Auslöser.
LXI
Ein Windhauch fuhr durchs Zimmer, und die Gaslichter verloschen.
Blieb die Zeit stehen?
Auf Mafaldas Sekretär war eine altertümliche, verschnörkelte Uhr aufgesetzt. Amadeo hatte den Fotoapparat sinken lassen, starrte auf die Frauengestalt, starrte auf das Zifferblatt: Der Zeiger bewegte sich nicht mehr. Auch sein Herz, so schien es ihm, hatte aufgehört zu schlagen.
Weitere Kostenlose Bücher