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Die letzte Offenbarung

Die letzte Offenbarung

Titel: Die letzte Offenbarung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan M. Rother
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Essen? Nein, unvorstellbar. Er schob sich durch die Tür ins Sekretum und drückte sie hinter sich zu. Es war unnötig. Die nächsten sieben oder acht Stunden würde sich niemand in der officina sehen lassen. Trotzdem hatte Amadeo auf einmal das Gefühl, als würden ihm tausend unsichtbare Augen in den Rücken stechen.
    Der capo war ein misstrauischer Mensch, und das Sekretum war sein Allerheiligstes. Außer Amadeo und Niccolosi gab es höchstens zwei oder drei Kollegen, denen er die Schlüssel aushändigen würde. Doch musste das bedeuten, dass er ihnen ohne jede Einschränkung vertraute?
    Die Blicke des Restaurators rasten über die Wände. Auf einmal war es undenkbar, dass es nicht irgendwo eine versteckte Kamera gab, die jede seiner Bewegungen verfolgte und aufzeichnete. Eine? Ein halbes Dutzend! Stunden von Filmmaterial ließen sich heute auf einem Mikrochip sichern, kleiner als sein Fingernagel!
    Keuchend atmete er ein und aus und kämpfte gegen die Paranoia an. »Wir restaurieren Bücher«, flüsterte er, »wir sind keine Atomphysiker. Wir reichern kein Uran an.«
    Es würde auch eine Menge Uran brauchen, um es mit der Sprengkraft von dem aufzunehmen, was er da entdeckt hatte — wenn die Handschrift echt war.
    Was, wenn sie eine Fälschung war? Dann war es die bizarrste Fälschung, die er jemals zu Gesicht bekommen hatte.
    Mit steifen Beinen stakste er hinüber zum Arbeitstisch und sank auf seinen Stuhl. Vorsichtig hob er den Karton beiseite und starrte auf die Glasplatte. Die Papyri waren noch da. Was hatte er auch erwartet? Die blassbraunen griechischen Buchstaben hoben sich deutlich ab, ein wenig zittrig, dennoch sorgfältig geschrieben, streng und diszipliniert. Papyri von dieser Qualität waren teuer gewesen damals, und der Schreiber musste über jeden einzelnen Satz seines Vermächtnisses genau nachgesonnen haben, bevor er ihn niederschrieb.
    Johannes, der Apostel des Herrn. Der Heilige von Patmos. Der Jünger, der bei Tische im Schoße des Herrn ruhte. Oder der Fälscher.
    Für einen Augenblick wurde die Übelkeit unerträglich, und ein säuerlicher Geschmack trat in seinen Mund. Ein unappetitliches Wortspiel über secrezio — Sekret — und Sekretum fuhr ihm durch den Kopf.
    Ich bin nicht ganz bei Verstand, dachte er. Ich bin nicht ansatzweise in der Lage, die Echtheit dieser Fragmente zu prüfen. Ich bin...
    Er brauchte eine zweite Meinung. Eine unvoreingenommene Meinung. Nur, wie sollte irgendein Mensch der Welt unvoreingenommen bleiben, wenn er das hier zu lesen bekam? Was, wenn er nur einen Ausschnitt, einen harmlosen Satz weitergab? Den ersten vielleicht? Das war schließlich der Beginn des Johannesevangeliums.
    Bloß an wen sollte er sich wenden?
    Ein Gesicht blitzte vor seinem geistigen Auge auf. Schütteres Haar über einem Gesicht, das ständig übermüdet wirkte und aus dem eine tiefrote Nase hervorstach, die von einer besonders leidenschaftlichen Zuneigung zum Rosso Piceno sprach: Professor Ingolf Helmbrecht vom Institut für Paläographie in Weimar — vielleicht der bedeutendste lebende Experte für historische Handschriften überhaupt. Während seiner Studienzeit in Rom hatte Amadeo niemals einen Mentor gehabt, das hatte sich erst in Weimar geändert. Die Restaurierung alter Bücher und die Arbeiten in der Anna Amalia Bibliothek hatten eine neue Welt für ihn geöffnet. Eine neue Berufung. So war er am Ende wieder in Rom gelandet, in der officina di Tomasi. Er schätzte Helmbrecht sehr, so sehr, dass er bereit war, dem alten Mann manchen Spleen durchgehen zu lassen. Helmbrecht dagegen schätzte den Wein der Marken — Amadeo inbegriffen, der auf einem Weingut in den Marken aufgewachsen war. Der Restaurator wusste nicht genau, wann seine Eltern endgültig die Hoffnung aufgegeben hatten, dass er eines Tages in das uralte Familienunternehmen einsteigen würde. Seine Schwester und ihr Mann machten dort jedenfalls eine hervorragende Arbeit. Er hatte also gute Kontakte — und das tat dem Kontakt zu Professor Helmbrecht gut.
    »Helmbrecht«, murmelte er und tastete schon nach seinem telefonino .
VI
    Amadeo hätte auch das Festnetztelefon an seinem Arbeitstisch benutzen können, doch er wusste, mit welcher Akribie Giorgio di Tomasi jeden Monat die Einzelverbindungsnachweise studierte. Das war schon nicht mehr gesund. Die officina hatte zwar eine Flatrate ins italienische Festnetz angemeldet, doch die war nicht für Privatgespräche gedacht, wie der capo fast täglich betonte. Schon gar nicht

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