Die letzte Offenbarung
während der Arbeitszeit. Allerdings konnte selbst ein Giorgio di Tomasi Carla Niccolosi nicht daran hindern, fünf Mal am Tag unter irgendeinem Vorwand bei ihrem Mann anzurufen. Wenn der Kahlkopf wirklich nebenbei etwas laufen hatte, musste er das sehr geschickt anstellen.
Er muss ein Handy haben, von dem sie nichts weiß, dachte Amadeo, während er bereits in seinem eigenen Mobiltelefon nach Helmbrechts Nummer suchte.
Er selbst hatte ganz eigene Gründe, aus denen er darauf verzichtete, einen der Apparate zu benutzen, die auf die officina liefen, Es war unnötig, dass der Inhaber der Werkstatt jetzt schon erfuhr, was Amadeo entdeckt hatte — und ein Anruf in Weimar würde di Tomasi ganz sicher misstrauisch machen. Außerdem war dem capo ohne weiteres zuzutrauen, dass er nachprüfte, was das für ein Anschluss war, und Helmbrecht hatte eine Geheimnummer.
Der Rufton ging raus. Es klingelte. Zwei Mal, drei Mal — sieben Mal. War Helmbrecht nicht zu Hause? Auf einer Tagung? Stand etwas an? Hatte Amadeo selbst eine Einladung erhalten?
»Was... Helmbrecht!«, krächzte es anderthalbtausend Kilometer entfernt.
»Guten Abend, Professor! Hier ist Amadeo Fanelli!«
Schweigen. Dann ein Husten, das sich nicht gesund anhörte. »Und hier ist es kurz vor Mitternacht!«
Der Restaurator schluckte. Wo war nur die Zeit geblieben? Ihm kam es vor, als sei Niccolosi erst vor einer halben Stunde gegangen. »Verzeihen Sie, Professor. Das muss... die Zeitverschiebung...«
»Zwischen Weimar und Rom?« Das Krächzen klang jetzt eindeutig ungehalten. »Sie reden Blech, junger Mann!«
»Tut mir leid«, murmelte Amadeo. »Ich weiß, es ist ziemlich spät, aber ich habe hier... äh... soll ich in zwei Stunden noch einmal anrufen?«
»Und mich wieder aus dem Schlaf holen? Haben Sie was getrunken, Amadeo?«
»Caffè ristretto« , sagte er schwach.
»Kein Wunder, dass Sie nicht schlafen können.« Ein Knirschen und Quietschen, dann ein gemurmelter Dialog, den Amadeo nicht genau mitbekam. Helmbrechts Ehefrau kannte er nicht, doch die Frau, die über eine solche Störung erfreut war, musste noch geboren werden. »Was ist denn überhaupt los?«, fragte der Professor. »Ich gehe rüber ins Büro. Ist etwas passiert?«
Wenn Sie wüssten, dachte der Restaurator.
»Amadeo?« Er musste etwas verpasst haben. »Amadeo? Hören Sie mich?«
»Ja. Ich war abgelenkt.«
»Was beim Schutzheiligen der gesegneten Nachtruhe ist los mit Ihnen?« Helmbrecht klang ehrlich besorgt. »Da stimmt doch was nicht!«
Amadeo schluckte. »Ich habe da etwas, das ich Ihnen zeigen möchte. Fragmente eines Papyrus. Sie waren zur Verstärkung im Rücken eines Hortulus eingebunden.«
»Sie meinen Pergamente«, verbesserte der Professor.
»Ich meine Papyri«, entgegnete Amadeo. Er erschrak über den ungehaltenen Ton in seiner eigenen Stimme. »Fragmente von Papyri. Sehr alte Papyri. Ich möchte Sie bitten, einen Blick darauf zu werfen.«
»Mitten in der Nacht?« Doch Helmbrechts Interesse war geweckt. »Etwas schwierig durchs Telefon, was?«
»Mein telefonino hat eine Kamera«, sagte er. »Ich könnte Ihnen...«
»Ich besitze kein Handy und weigere mich, jemals eins zu besitzen. Das verleitet nur noch mehr Menschen, einen zu nachtschlafender Zeit zu belästigen.«
»Ich verstehe«, entgegnete Amadeo. »Aber eine Mailadresse haben Sie?«
»In der Steinzeit leben wir nicht mehr. Die Langobarden sind inzwischen auch abgezogen — ich glaube, die wollten zu Ihnen.« Amadeo unterdrückte ein Grinsen, das der Professor ohnehin nicht hätte sehen können. Wenn er in dieser Geschwindigkeit von der elektronischen Kommunikation auf die Völkerwanderung kam, war er jetzt jedenfalls wach — und gierte nach den Papyri. Der Restaurator erkundigte sich nach der Mailadresse, versprach, sofort ein Foto zu machen, und legte auf.
»Die Würfel sind gefallen«, murmelte er. Jetzt gab es kein Zurück mehr.
VII
Seufzend betrachtete Amadeo die sündhaft teuren Hochleistungsscanner. Eine Anschaffung für eine ganze Generation, so hatte der capo geprahlt, als die Monstren im vergangenen Jahr angeschlossen worden waren und das Sekretum eine Woche lang nicht zugänglich war. Eine Generation — und die nächste und übernächste. Giorgio di Tomasi hatte die officina von seinen Altvorderen geerbt. Die Werkstatt war seit undenklichen Zeiten immer vom Vater an den Sohn weitergegeben worden. Vermutlich seit einer Zeit, als die Ahnen des capo jene Manuskripte, die ihr x-ter Urenkel heute
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