Die letzte Offenbarung
ziehen. Es war nicht möglich, undenkbar.
Amadeo drückte die schwere Klinke, riss an der Tür — und sie öffnete sich.
Dahinter war dunkles Zwielicht. Ein Abstellraum? Ein Wartungskorridor? Er blickte in den schmalen, fensterlosen Gang, der tiefer ins Innere von San Pietro führte. Seltsam genug, dass die Tür nicht abgeschlossen war. Nein, dachte Amadeo, das ist nicht seltsam. Schon die lange Galerie über den Portalen war nicht für die Öffentlichkeit bestimmt, und an einem gewöhnlichen Tag hätte die Schweizergarde Besuchern den Zugang verwehrt.
Doch dies war kein gewöhnlicher Tag.
Sein Fuß stieß gegen etwas Weiches, und Amadeo fuhr zurück: Rot, Blau und Gelb. Die Farben der Uniform stammten aus dem Familienwappen der Medici, eine ferne Erinnerung an die schrecklichen Ereignisse des Sacco di Roma. Damals waren an einem einzigen Tag drei Viertel der Schweizergardisten gefallen, um den Rückzug des Medici-Papstes Clemens VII. in das Castel Sant'Angelo zu decken. Zum Gedächtnis an dieses Opfer waren die Farben in der päpstlichen Garde bis heute beibehalten worden.
Der Mann zu Amadeos Füßen lag in einer unnatürlichen Haltung auf dem Bauch, in einer Pfütze seines eigenen Blutes. Schaudernd stieg der Restaurator über den Leichnam hinweg.
Dort war eine weitere Tür. Sie stand einen Spalt offen. Der Schweizergardist hatte sie offenbar nicht mehr schließen können. Amadeo spähte hindurch: ein Treppenhaus. Soweit er sehen konnte, war es menschenleer. Amadeo lauschte. Das Echo der Schusswechsel war auch hier vernehmbar, doch die dicken Mauern der päpstlichen Basilika dämpften den Hall. In nächster Nähe wurde nicht gekämpft. Vorsichtig schob er die Tür auf. Falls sich irgendwo jemand verbarg, rührte er sich nicht.
Was, wenn sie auf mich lauern?, dachte Amadeo. Wenn sie nur darauf warten, dass ich einen falschen Schritt mache? Hatte er bei dem toten Schweizergardisten eine Pistole gesehen? Zusätzlich zu ihren Hellebarden waren die päpstlichen Wachen längst mit automatischen Schnellfeuerwaffen ausgestattet.
Nein. Er dachte an Maria Laach und daran, wie sein Schuss den Blondschopf niedergestreckt hatte. Das war nicht sein Weg, und er wusste sehr gut, dass er keine Chance hatte, wenn er Bracciolinis professionellen Killern in die Hände lief. Wenn er überhaupt eine Chance hatte, dann bestand sie darin, unentdeckt zu bleiben.
Amadeo holte Atem und trat durch die Tür.
Das Treppenhaus war leer. Er stand in einem Zwischengeschoss und entdeckte linker Hand ein Hinweisschild: »cupola« . Das war der Aufgang zur Kuppel von San Pietro. Doch ein Aufgang war immer auch ein Abgang, und tatsächlich: Auf der rechten Seite führte die Treppe nach unten, in das Innere der großen Basilika. Amadeo erinnerte sich: Die Heerscharen der Tagestouristen lotste man mittlerweile von außen zu großen Fahrstühlen, die sie auf das Dach der Papstkirche brachten. Allerdings gab es einen zweiten Eingang im Innern der Basilika, im vordersten Bereich von San Pietro, direkt gegenüber dem Grabmal der katholischen Stuarts. Amadeo spürte, wie eine zentnerschwere Last von seinen Schultern fiel. Von dort war es nicht weit zu den großen Portalen — und über die Piazza di San Pietro näherten sich die polizia und das Militär. Die Rettung.
Mit butterweichen Knien machte er sich an den Abstieg.
Die Stufen liefen um eine mächtige Mittelbasis, so dass er jeweils nur einige Meter weit sehen konnte. Jeden Augenblick musste er damit rechnen, dass Bracciolinis Männer vor ihm auftauchten — oder irgendjemand anders. Immer wieder hielt er inne und versuchte, seinen rasenden Herzschlag zu beruhigen, das Brausen des Blutes in seinem Kopf, das es ihm unmöglich machte, auf das zu lauschen, was sich vor ihm, unter ihm tat.
Er wusste, dass es nicht sein konnte, doch das Treppenhaus schien mit jeder Stufe enger und enger zu werden. Bedrückend. Erstickend.
Da! Ein Schattenumriss an der Wand, undeutlich im diffusen Licht, das die Treppe erhellte. Der Umriss bewegte sich, wenn auch nur ganz leicht. Es war eindeutig eine Gestalt.
Amadeo verharrte reglos. Was war das? Ein Verletzter, der auf den Stufen zusammengesackt war? Oder ein Scharfschütze in Diensten des Kardinalstaatssekretärs, der nur darauf wartete, dass Amadeo den einen unvorsichtigen Schritt tat? Konnten sie damit rechnen, dass er diesen Weg nehmen würde?
Ein leises Wimmern, so leise, dass er für einen Moment glaubte, er hätte es sich nur eingebildet. Aber da war
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