Die letzte Offenbarung
es wieder, eine Winzigkeit lauter. Beinahe war es... wie ein Wort.
»Papa!«
Das Wort traf ihn wie ein Dolch in die Brust. Ein Kind!
Er huschte die Stufen hinab und erblickte ein kleines Mädchen, etwa fünf oder sechs Jahre alt, in einem hellen Sweatshirt. Auf dem Shirt war eine Zeichentrickfigur abgebildet, die ein bisschen aussah wie eine Kreuzung aus Tim und Struppi.
»Papa!«, weinte das Kind, dann sah es Amadeo und verstummte.
Der Restaurator wusste sofort, dass der Vater des Mädchens tot war. Der Mann war Ende zwanzig — Ende zwanzig gewesen . Vermutlich ein Italiener: dunkelhaarig, nicht sehr groß, ein freundliches Gesicht, soweit sich das noch sagen ließ. Jetzt lag er mit blicklos zur Decke gerichteten Augen auf den Stufen, seine ursprünglich blaue Jeansjacke dunkel vor Blut.
Unvermittelt erwachte eine Wut in Amadeo, wie er sie noch nie gespürt hatte. Mit welchem Recht hatten diese Menschen das getan? War ihnen der Mann einfach nur im Weg gewesen, als sie den Schweizergardisten verfolgten? Warum überhaupt wurde in San Pietro gekämpft, weit entfernt vom Schauplatz des Attentats? Es ist mehr als das Attentat, begriff er, und im selben Augenblick war ihm klar, dass die Fragmente und der Papst — wenn er denn noch am Leben war — auch in den apostolischen Gemächern nicht sicher sein würden. Doch Duarte war kein dummer Mann, und De la Rosas Personenschützer waren auch nicht auf den Kopf gefallen. Mit Sicherheit hatten sie längst Verstärkung erhalten — und die Schweizergarde stand ja offenbar loyal zum Pontifex.
Nur machte das den Vater des Mädchens auch nicht wieder lebendig.
Vorsichtig ging Amadeo in die Hocke. Er hatte in den vergangenen Tagen so viel Brutalität erlebt, so viele Schmerzen, einen solchen Alptraum — doch der Anblick dieses Kindes: Das riss ihm das Herz entzwei. Seine Stimme klang rau, als er sagte: »Du hast aber ein hübsches...« Er versuchte, das Wesen auf dem Sweatshirt zu identifizieren, das Mädchen schlang jedoch furchtsam die Arme um sich. »Der sieht aber lustig aus«, sagte er schließlich. »Wie heißt du, bambina?« .
»Mein Papa sagt, ich soll nicht mit Fremden sprechen«, erwiderte die Kleine weinend.
Es schnürte ihm die Kehle zu. Hilflos blickte er auf das Mädchen, dessen Weinen allmählich lauter wurde. Was sollte er tun? Er hatte nie gut mit Kindern umgehen können — nicht einmal mit denen seiner Schwester —, trotzdem war sein Impuls, die Kleine mitzunehmen.
Etwas Schlimmeres hätte er dem Kind gar nicht antun können, denn wo er war, war die Gefahr. Und er durfte keine Sekunde verlieren, keinen einzigen Augenblick.
Er zwang einen aufmunternden Ton in seine Stimme. »Bambina , du musst mir versprechen, dass du jetzt genau hierbleibst.« Im Treppenhaus hatten sie schließlich schon gesucht, also war davon auszugehen, dass dies im Moment ein relativ sicherer Ort war. »Bald wird jemand kommen und dich holen, und dann...« Er schüttelte den Kopf. »Dann wird deine mamma sich auf dich freuen.«
Das Mädchen sah ihn mit großen Augen an und nickte ernst. Vielleicht erinnerte es sich daran, dass sein Vater ihm verboten hatte, mit fremden Männern zu reden. Jedenfalls hörte es zu. Das war gut.
»Das machst du sehr schön«, sagte er, während er wieder aufstand, »wie du da... sitzt.«
Er betrachtete das Kind. Unmöglich! Er konnte nicht einfach weitergehen, aber er hatte nichts, das er dem Mädchen ... Seine Hände umklammerten noch immer De la Rosas Aktentasche.
Es war eine Eingebung. Amadeo wusste sehr gut, was Rebecca von seinen spontanen Eingebungen hielt, trotzdem öffnete er die Tasche, nahm vorsichtig das Fragment heraus und verstaute es in seiner Soutane. Dann reichte er die Tasche der Kleinen.
»Du bist ein großes Mädchen«, sagte er. »Bleib an dieser Stelle sitzen und pass auf das hier auf, ja? Und wenn deine Mutter kommt, dann gibst du ihr die Tasche. Sie«, er zögerte, »gehört einem Mann, der Pio heißt. Kannst du dir das merken?«
Das Mädchen nickte.
»Bitte sag das deiner Mutter, sie soll sich in ein paar Tagen bei Pio melden, ja? Er muss schließlich seine Tasche zurückbekommen. «
Wieder nickte das Mädchen.
Falls alles ein gutes Ende nahm — was sich Amadeo im Moment noch nicht vorstellen konnte —, würde er mit dem Papst reden. Der Tote sah nicht aus, als stammte dieses Mädchen aus einer reichen Familie. Als Kind der Marken wusste Amadeo, in welcher Armut manche Familien im ländlichen Italien lebten. De la
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