Die letzte Offenbarung
Rosa konnte dafür sorgen, dass wenigstens die finanzielle Zukunft dieses Mädchens gesichert war.
»Das machst du sehr schön«, sagte er noch einmal. Sein Lächeln war wohl eher eine Grimasse, aber etwas anderes bekam er nicht zustande. »Bleib einfach da sitzen.«
Dann ging er weiter. Nach ein paar Schritten sah er sich noch einmal um. Das Mädchen umklammerte die Aktenmappe des Pontifex in genau derselben Haltung, die es bei Amadeo gesehen hatte.
Der Restaurator stieg weiter hinab. Er musste den Fuß der Treppe und das mächtige Langschiff von San Pietro inzwischen beinahe erreicht haben. Vielleicht zwanzig, fünfundzwanzig Meter Höhenunterschied lagen zwischen der großen Freitreppe, die zu den Portalen der Basilika führte und dem großen Balkon an der Galerie, von dem aus an glücklicheren Tagen der Pontifex das Wort an die Menschen richtete. Amadeo gab sich noch immer Mühe, keine Geräusche zu verursachen, doch er wusste genau: Wenn sie dort unten auf ihn lauerten, hatten sie mitbekommen, wie er mit der Kleinen gesprochen hatte. Am zunehmenden Hall, den seine Schritte auf den Stufen verursachten, erkannte er, dass er sich dem mächtigen Kirchenraum näherte. Er ließ die letzte Biegung der gewundenen Treppe hinter sich.
Ein halbdunkler Raum. Im Schatten entdeckte er einen weiteren leblosen Körper, aber er sah nicht genauer hin. Weiter hinten eine neue, breite Tür, die offen stand.
Ein Stück entfernt ertönte der Lärm eines Schusswechsels. Das Geräusch von rechts, von den Portalen her.
Amadeo hatte sich noch nicht so weit vorgewagt, dass er erkennen konnte, was dort geschah, aber er wusste es auch so: Bracciolinis Männer leisteten der polizia Widerstand. Was blieb ihnen auch anderes übrig? Sie mussten ihr Werk vollenden. Solange sie Amadeo nicht gefunden hatten und die Fragmente, die er bei sich trug, hatten sie nichts gewonnen mit dem Blutbad, das sie angerichtet hatten.
Vor ihm öffnete sich das gewaltige Innere von San Pietro. Gewaltig? Der größte Kirchenbau der Christenheit war mehr als einfach nur gewaltig. In seiner Zeit in Weimar hatte Amadeo ein Konzert von Depeche Mode im Berliner Velodrom besucht. Überall auf der Welt gab es Mehrzweckhallen, deren Dimensionen den Dom von San Pietro weit in den Schatten stellten, und dennoch war diese Kirche, war jede Kirche etwas völlig anderes. Die jahrhundertelange Erinnerung, der Atem des Alten, der diese Orte mit einem heiligen Zwielicht erfüllte, zu Stätten machte, die nicht ganz von dieser Welt waren... das alles ließ die großen Kirchen der Christenheit zu etwas Einzigartigem werden, und nichts auf der Welt...
Die Kugel pfiff so dicht an seinem Kopf vorbei, dass er den Luftzug spürte. Amadeo warf sich instinktiv nach hinten, duckte sich zu Boden, suchte Schutz hinter einem Marmorpfeiler.
Also hatten sie auf ihn gewartet. Natürlich! Sie hatten gesehen, wie er die Galerie entlangfloh — und im Gegensatz zu ihm kannten sie die Örtlichkeiten. Sie wussten, dass es eine Treppe gab, die in die Kuppel führte — und in der anderen Richtung hinab in die Kirche. Amadeo wäre wahnsinnig gewesen, die Sackgasse nach oben zu nehmen. Während einige von ihnen sich ein Gefecht mit Rebecca lieferten, waren die Übrigen in die Halle der Basilika geeilt — und sie waren weit schneller gewesen als er, der am Leichnam des Schweizergardisten und dann bei dem kleinen Mädchen Zeit verloren hatte.
Aber nein: Die Zeit war nicht verloren. Er war froh über jede Sekunde, die er dem Kind geschenkt hatte. Bracciolini hätte das nicht begriffen. Wahrscheinlich hätte er das, was Amadeo getan hatte, als Klein-Klein bezeichnet, doch in Wahrheit bedeuteten die Sekunden mit dem kleinen Mädchen unendlich viel. Ein Zeichen, dachte Amadeo. Selbst wenn es kein Zeichen gewesen wäre: Das war es wert. Was auch immer aus ihm wurde, er betete darum, dass das Kind diesen schrecklichen Tag irgendwie überstehen würde. Überrascht stellte er fest, dass er tatsächlich betete, während rings um ihn unter den Kugeln von Abgesandten der Heiligen Kirche der Marmor splitterte.
Einige Schritte vor ihm gab es ein niedriges Geländer, das eine Seitenkapelle abteilte, daneben eine funktionelle Abtrennung, um den Strom von Besuchern zu lenken, die den Aufstieg zur Kuppel wagen wollten.
Das Ganze sah hinreichend massiv aus. Gebückt tastete sich Amadeo vor und spähte in das Halbdunkel des Doms. Die volle Ausdehnung des Kirchenschiffes war von hier aus unsichtbar: Wenige Meter
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