Die letzte Offenbarung
entfernt versperrte einer der mächtigen Pfeiler der Basilika den Blick. Amadeo schaute geradewegs auf das Grabmal der Stuarts, das in den Pfeiler eingelassen war. Dort lagen der legendäre Bonnie Prince Charlie, der Erbe der Kronen Schottlands und Englands, sein Vater und sein Bruder. Auf ihre Weise waren auch sie Opfer der Kirche, die bis heute ihr Andenken ehrte, denn es war ihr katholischer Glaube gewesen, der ihnen die Heimat geraubt hatte. Hier, in Rom, waren sie schließlich gestorben, und mit ihnen war das uralte Königsgeschlecht erloschen.
Irgendwo dort mussten sich die Schützen verborgen halten. Noch hielten sie sich verborgen, wohl, weil sie befürchteten, Amadeo könnte ebenfalls bewaffnet sein. Rasch würde ihnen aufgehen, dass das nicht der Fall war.
Gehetzt sah er sich um, und sein Instinkt befahl ihm, sich zurückzuziehen, einen anderen Weg zu suchen. Der einzige andere Weg führte zur Kuppel hinauf. Vielleicht gab es dort eine Möglichkeit, über die Dächer der gewaltigen Kirche zu fliehen. Auch in San Pietro musste es Feuerleitern geben. Aber auf der Treppe kauerte das kleine Mädchen. Nein, das kam nicht infrage. Er saß wie ein Tier in der Falle. In der Basilika erwarteten ihn die Mündungen vatikanischer Schnellfeuerwaffen.
Undeutlich sah er, wie sich eine Gestalt aus den Schatten des Pfeilers löste, dann eine zweite.
»Bleiben Sie stehen!«, rief Amadeo. Seine Stimme klang schwach, und die Weite des Kirchenraumes schien sie zu verschlucken. »Es hat schon zu viele Tote gegeben!«, sandte er hinterher. »Ich will Ihnen nicht...«
Eine neue Salve von Schüssen war die Antwort. Sie schlugen ein Stück über ihm in die Wand. Krachend barst der Marmor. Amadeo schrie auf, als ein Bruchstück sein Gesicht streifte, presste die Hand gegen die Stirn. Blut.
Neue Schüsse.
Das war das Ende. Er überlegte keinen Augenblick, ob er ihnen die Fragmente freiwillig aushändigen sollte. Sie würden sein Leben ganz sicher nicht schonen. Außerdem wäre es der vielen Menschen nicht würdig gewesen, die für die Offenbarung gestorben waren. Er konnte nur warten, dass sie ihn erreichten. Vielleicht würde es dann schneller gehen, ohne unnötige Schmerzen.
Nein!
Nein, er war nicht so weit gekommen, um jetzt tatenlos den Tod zu erwarten.
Unvermittelt sprang Amadeo auf, stützte sich auf die Marmorbrüstung und hechtete darüber hinweg. Das Blut von seiner Stirn machte seine Hände glitschig, und er rutschte weg, verhedderte sich in seiner Soutane. Schmerzhaft schlug er auf dem Marmorboden auf.
Das rettete ihm das Leben. Die Kugeln peitschten über ihn hinweg.
Auf allen vieren kroch er davon, hinter ihm die Schritte der Attentäter. Sie mussten erst wieder ein freies Schussfeld finden. Das Blut floss ihm in die Augen, machte ihn fast blind.
Jetzt hallten neue Schüsse.
Ein Schrei. Die Salve brach ab. Dann ging es weiter. Wieder Schreie.
Unsicher wandte Amadeo sich um. Bracciolinis Männer feuerten gar nicht auf ihn. Die Mündungen ihrer Waffen waren noch immer auf die Kammer gerichtet, in der sich der Aufgang zur Kuppel verbarg. Hatten sie seine Flucht gar nicht bemerkt?
Amadeo erstarrte, als er begriff, was dort vorging: Das Feuer der Männer wurde erwidert. Diese Schüsse klangen anders. Das waren... Salven aus Maschinenpistolen! Er hatte dieses Geräusch schon einmal gehört.
Es war erst zwei Tage her. In Maria Laach.
Niketas! Niketas und seine Männer. Amadeo wurde übel. Übel vor Erleichterung, Schwäche, neuer Hoffnung.
Er sah, wie die Gewalt eines Treffers einen von Bracciolinis Männern nach hinten schleuderte, trotzdem zogen sie sich nicht zurück. Der Kampf stand unentschieden. In Wahrheit war Amadeo natürlich weit entfernt davon, das beurteilen zu können. Aus sämtlichen Richtungen erschollen die Echos der Kämpfe, brachen sich am uralten Marmor der gewaltigen Kirche. Die gesamte verwinkelte Anlage des Domes und der vatikanischen Paläste war zum Schlachtfeld geworden. Das Herz der Christenheit wand sich in den Zuckungen der Agonie.
Amadeo kroch über den kalten Marmor hinüber zur Wand und richtete sich mühsam auf. Es gab kaum einen Teil seines Körpers, der ihm nicht wehtat. Beim Sprung über die Brüstung hatte er sich die Knie aufgeschlagen, und das Blut sickerte durch den Stoff der Soutane. Seine mehrfach gebrochene Rippe nahm er kaum noch wahr, und die Hand, auf die er auf der Treppe an den Stanzen des Raphael gestürzt war, war halbwegs taub, seine Stirn dagegen brannte wie
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