Die letzte Offenbarung
gemeinsamen — Sarkophag. Ihn und den päpstlichen Leichnam. Amadeo war nicht fähig, den Blick vom Gesicht des Toten abzuwenden. Der Schädel des Papstes lag auf einem verblichenen samtenen Kissen, und die hohe Bischofsmütze -keine Tiara — war ihm vom Kopf gerutscht. Mit Grausen versuchte sich Amadeo vorzustellen, wie die Züge des Toten zu Lebzeiten ausgesehen haben mochten, und sie mit Darstellungen von Päpsten aus seinem Gedächtnis überein zu bringen. Bitte nicht Pio XII., dachte er, der war schon zu Lebzeiten unheimlich genug. Nein, der konnte es nicht sein. Amadeo erinnerte sich, dass der Pacelli-Papst auf der anderen Seite des Apostelgrabes beigesetzt war, ganz nahe beim heiligen Petrus. Dann schon lieber Giovanni XXIII. — der war dick und gemütlich. Aber als Leiche? Außerdem hatte Giovanni Paolo den Roncalli-Papst selig gesprochen. Giovanni ruhte, unter getöntem Sicherheitsglas für alle siehtbar, unter seinem eigenen Altar oben in San Pietro. Giovanni Paolo? Nein, undenkbar. Der lag unter einer schlichten Marmorplatte, und die hatte Amadeo vorhin gesehen.
Sein gruseliger Grabgefährte blieb namenlos.
Noch immer drang das Brummen der gedämpften Stimmen durch den zentimeterdicken Marmor. Einen Moment später schabte irgendetwas gegen die Wände von Amadeos Zuflucht, und er zuckte zusammen. Der grausige Leichnam schien daraufhin huldvoll mit dem Kopf zu nicken. Dieses Licht war ein schrecklicher Fehler gewesen. Mit jeder Sekunde wurde ihm stärker bewusst, wie erstickend eng dieses Gefängnis war und mit welchem Schrecken er es teilte. Er brauchte irgendetwas... Er musste sich irgendwie ablenken.
Fahrig glitten seine Finger über die Soutane. Rissig und rau schabten sie über den Stoff. Amadeo hielt inne. Die schmale, kleine Tasche vor der Brust. Die Papyri. Der letzte Teil. Das Ende der letzten Offenbarung. Der Grund, aus dem in den vergangenen Tagen so viele Menschen gestorben waren und vermutlich in dieser Minute noch immer Menschen starben. Der Grund, aus dem er quer durch Europa gehetzt war und vor allem gehetzt worden war, bis an diesen düsteren Ort, beinahe an den Ausgangspunkt seiner Reise.
Amadeo holte Atem, so tief es an diesem Ort möglich war. Vielleicht würden sie ihn entdecken und töten, und die Papyri würden vernichtet werden. Oder er würde vielleicht nie wieder aus diesem schauerlichen Gefängnis freikommen.
Trotz allem würde niemand verhindern, dass er, Amadeo Fanelli aus den Marken, jetzt die letzten Worte, die letzte Offenbarung lesen würde, die der Apostel Johannes, der Mann, der beim Mahle an der Schulter Jesu geruht hatte und mehr gewesen war für den Sohn Gottes, so viel mehr... Dass er, Amadeo Fanelli, diese Worte lesen würde.
Wenn es Gottes Wille war, dann würde er dieses Geheimnis eben mit ins Grab nehmen.
Wieder kämpfte er gegen das irre Gelächter an. Er lag bereits im Grab. Beinahe zärtlich zog er das von einer Klarsichthülle geschützte Blatt Papier hervor, auf dem De la Rosa die Fragmente aus Gerberts Handschrift fixiert hatte. Er hatte es aufgerollt, damit es in die verborgene Tasche passte — wie eine Schriftrolle. Vorsichtig rollte er das Schriftstück auseinander. Schon in der Biblioteca Apostolica war ihm aufgefallen, dass es diesmal weit mehr als jene elf Fragmente waren, die sie bisher in jedem der Codices gefunden hatten. Er begann zu zählen, und der Lichtstrahl der Diode tanzte hin und her. Amadeo lag auf dem Rücken, daher musste er sich zurechtlegen, bis er eine Position gefunden hatte, in der er lesen und gleichzeitig die Lampe halten konnte. Die mürben Gebeine des Verstorbenen knackten und barsten unter dem Gewicht seines Körpers. Endlich hatte er eine einigermaßen erträgliche Haltung eingenommen und hielt das Blatt mit ausgestrecktem Arm in die Höhe, bis seine Hand beinahe gegen den Deckel des Sarkophages stieß.
Amadeo sah auf die Fragmente. Mehr als dreißig waren es. Seine Hand zitterte, doch er erkannte sofort die Schrift des Johannes. Er würde die Worte lesen können.
Ein Blick auf den Leichnam, dessen Schädel jetzt direkt neben dem seinen lag, beide auf dem ausgeblichenen Samtkissen. »Willst du mitlesen?«, murmelte Amadeo.
Er musste sich ablenken. Ganz, ganz dringend.
Die letzte Offenbarung
Dann aber kam der letzte Abend, da er bei uns weilte, und das Passahfest der Juden war nahe .
Da hatte er uns, die Zwölf, um sich versammelt, in der Herberge am Rande der hochgebauten Stadt. Der Teufel aber hatte Judas, den
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