Die letzte Offenbarung
der Purpurgewänder und... Er wagte sich nicht zu rühren, hier, wo ihn nur eine dünne Lage mürben Samts vom verrottenden Leib des Pontifex trennte. Er hatte in der Eile nicht einmal mitbekommen, mit welchem der Toten er sein lichtloses Gefängnis teilte. Die Ältesten von ihnen lagen bereits seit tausend oder mehr Jahren in der beengenden Finsternis: Seite an Seite, getrennt durch Platten von Marmor. In der Nacht, wenn der Strom der Besucher versiegt war, hielten sie vielleicht einsame Zwiesprache über den Abgrund der Jahrhunderte hinweg.
Du darfst nicht den Verstand verlieren, flüsterte Amadeo sich lautlos zu, immer wieder, wie ein Mantra. Du darfst nicht den Verstand verlieren.
Er versuchte, die Worte zu verstehen, die draußen gesprochen wurden, denn es gab sonst nichts, womit er sich ablenken konnte. Doch alles, was zu ihm drang, war ein dumpfes Brummeln, nein, wie Bellen klangen die Fragen, die Görlitz den Männern und Frauen vor dem Sarkophag stellte, die Anweisungen, die er erteilte. Amadeo war klar, dass sie jeden dort draußen kontrollieren würden, ob sich nicht der Verfolgte heimlich unter sie gemischt hatte. Wie lange würde es wohl dauern, bis sie auf die Idee kamen, die Sarkophage zu untersuchen? Oder war das eine zu abenteuerliche Idee?
Amadeo hätte nicht für möglich gehalten, dass sich die schweren Marmordeckel auch nur einen Millimeter zur Seite rücken ließen. Sie waren mit Sicherheit irgendwie versiegelt, und überall in den Grotten gab es Überwachungskameras... Nur schrillte seit dem Attentat auf De la Rosa der gesamte Vatikan wie ein einziger gigantischer Wecker, und kein Mensch hatte im Augenblick die Zeit, auf irgendwelche Überwachungsmonitore zu blicken. Die elektronischen Augen des Vatikans waren blind.
Blind! Blind wie Amadeo selbst. Wie eine nachtschwarze Woge riss die Panik ihn mit sich und drückte ihn unter Wasser. Der Restaurator rang um Luft, würgte. Ein Schwindel tobte in seinem Kopf, und ein Zucken ging durch seine Glieder, dem er nicht Herr zu werden vermochte. Er spürte, wie seine Hacken in den verwesten Überresten des Toten strampelten, wühlten.
Dann kam ihm das Essen hoch, und er drehte das Gesicht zur Seite.
Aber selbst als es vorbei war, wollte die Übelkeit nicht nachlassen. Die Finsternis brannte sich durch sein Bewusstsein wie eine schwarze Sonne. Alles, die ganze Welt war auf diesen Ort zusammengeschrumpft, auf dieses luftlose Gefängnis des Todes, aus dem es kein Entrinnen gab.
Amadeo tastete in den Ärmeln seiner Soutane. Er wusste, dass es in jeder Soutane unauffällig angebrachte Taschen gab, die groß genug waren, um ein Schriftstück aufzunehmen — oder einen Rosenkranz. Jetzt hatte er sie gefunden. Seine Finger glitten hinein und schlossen sich um die Abfolge winziger Perlen, das schmale Holzkreuz und... Da war noch etwas.
Er zog den Rosenkranz hervor und befühlte mit beiden Händen, was er in den Fingern hielt. Der Gegenstand war winzig, aber er erkannte die Form wieder. Es war der Gegenstand, den der commandante in den Händen gehabt hatte, am Morgen erst, als sie die Galleria Principe Amadeo Savoia-Aosta durch die geheime Tür verlassen hatten.
Eine Lampe. Eine Diode.
Amadeo atmete auf, suchte nach dem Schalter, drückte mit verkrampften Fingern zu... und bereute es sofort.
Aus fünfzehn Zentimetern Entfernung blickte er in das mumifizierte Gesicht des Verstorbenen. Die Augen waren eingetrocknet, verschwunden in den leeren Höhlen, die Lippen von den Zähnen zurückgezogen, als grinse ihn der Tote höhnisch an. Wie dünnes Leder spannte sich die Haut über den Wangenknochen.
Ein gurgelnder Laut entrang sich Amadeos Kehle. Legte man toten Päpsten vor der Bestattung nicht ein Seidentuch über das Gesicht, um so etwas zu vermeiden?
Keine Frage. Er hatte den Verstand bereits verloren: Man legte toten Päpsten ein Tuch über das Gesicht, damit man keinen zu großen Schreck bekam, wenn man sich zufällig zu ihnen in den Sarg legte.
Wieder stieg das hysterische Gekicher in ihm auf, und er hatte gerade noch Verstand genug, sich zu fragen, was Görlitz und seine Männer annehmen würden, falls sie es dort draußen hören konnten. Würden sie die richtigen Schlüsse ziehen oder wie von Dämonen gejagt das Weite suchen, im Glauben, einer der Heiligen Väter sei zum Leben erwacht, um die Entweihung dieses Ortes zu rächen.
Wohl kaum. Diesen Dienern des Vatikans war nichts heillig.
Wider Erwarten ließen sie ihn in Ruhe in seinem — ihrem
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