Die letzte Offenbarung
woher die Sätze kamen. Es war gut möglich, dass er sie sich seit seiner Kindheit gemerkt hatte, doch er zweifelte daran. Amadeo konnte, er durfte jetzt nicht darüber nachdenken. Er musste sich beeilen. Der Mann starb, und schon glaubte er hinter sich laute Rufe zu hören, die Schritte seiner Verfolger. »Durch den Dienst der Kirche schenke er dir Verzeihung und Frieden. So spreche ich dich los von deinen Sünden.« Er schlug ein Kreuz über dem Gesicht des Mannes. »Im Namen des Vaters«, ein zweites Kreuz, »und des Sohnes«, ein drittes, »und des Heiligen Geistes.«
Der Sterbende konnte nicht mehr sprechen.
»Ego te absolvo a peccatis tuis in nomine patris et filii et Spiritus sancti.«
»Amen!«, sprachen die Umstehenden.
Amadeo sah, wie auch der Sterbende die Lippen bewegte. Er gab einen Tropfen Babyöl auf seine Hand und strich ihn auf die Stirn des Mannes. »Durch diese heilige Salbung helfe dir der Herr in Seinem reichen Erbarmen, er stehe dir bei mit der Kraft des Heiligen Geistes: Der Herr, der dich von Sünden befreit, rette dich, in Seiner Gnade richte er dich auf.«
»Amen!«, sprachen erneut die Männer und Frauen, die sich inzwischen um sie versammelt hatten.
Die Lippen des Mannes bewegten sich nicht mehr. Amadeo senkte den Kopf und betete. Nun betete er still...
»...ein Mann in einer Soutane! Ein jüngerer Mann!«
Die Worte waren deutlich zu verstehen.
Amadeo fuhr auf. »Ich muss hier weg!«, flüsterte er. In Panik sah er sich nach einem Versteck um. Jetzt erkannte er, dass sich mindestens zwanzig oder dreißig Menschen in den unterirdischen Raum geflüchtet hatten. Furchtsam drängten sie sich zwischen die Sarkophage, die düsteren Grabmale verstorbener pontefici .
Doch die Gewölbe gingen weiter, und mehrere düstere Gänge führten tiefer in das Labyrinth der Grotte Vaticane .
»Der Ausgang ist versperrt«, sagte der Sohn des Mannes, dem Amadeo die Letzte Ölung gespendet hatte. Sanft legte er seinen Vater auf dem Boden ab. »Warum suchen die Sie?«, fragte er rasch. »Weil Sie ein Priester sind?«
Die Stimmen der Verfolger kamen näher.
Amadeo nickte eilig. »Islamisten«, sagte er. Das war das Erste, was ihm einfiel.
»Dann verstehe ich«, murmelte der junge Mann. »Kommen Sie!« Er richtete sich auf und winkte zwei weitere Männer heran. »Helfen Sie mir!« Er stemmte sich gegen den schweren Sarkophag, zu dessen Füßen sie den Sterbenden niedergelegt hatten, und sah sich zu Amadeo um. »Sie auch!«, presste er unter Anstrengung hervor.
Erneut blickte Amadeo über seine Schulter. Noch sah er keine Bewegung, aber er hörte, wie die Stimmen lauter wurden, während die Verfolger durch die unterirdischen Gänge vordrangen.
Drei, vier weitere Anwesende traten an die Seite Amadeos und des jungen Mannes. »Auf drei!«, keuchte der Sohn des Toten. »Eins — zwei — drei!« Alle gemeinsam stemmten sie sich gegen die marmorne Grabplatte.
Ein vernehmliches Knirschen, und der zentnerschwere Sargdeckel bewegte sich, klaffte einige Zentimeter weit auf.
»Noch einmal!«, befahl der junge Mann. »Eins — zwei -drei!«
Der Spalt vergrößerte sich, inzwischen maß er dreißig, vierzig Zentimeter an der breitesten Stelle.
»Was soll das?«, fragte Amadeo verwirrt.
»Da vorne sind Stufen, passt auf!«, hörte er Görlitz' Stimme und erstarrte. Wenn sie an den Stufen waren, hatten sie ihn beinahe.
»Das ist für Sie!«, zischte der junge Mann. »Los, da rein!«
»Was?« Amadeo spürte, wie jede Farbe aus seinem Gesicht wich. Er sollte... in einen Sarg steigen? Zu einem Toten? In einen engen, lichtlosen, luftlosen Sarg zu einem Leichnam?
Er fuhr zurück. »Das kann ich nicht!«
»Los!« Der junge Mann packte ihn. Weitere Hände halfen. Amadeo wehrte sich schwach, doch...
»Pater noster in coelis« , murmelte er, dann zog er sich selbst am glatten Marmor des Sarkophags empor, glitt durch den schmalen Spalt in das Innere. Da war etwas Weiches, etwas ...
Herr, steh mir bei, dachte er.
»Eins«, flüsterte der junge Mann, »zwei — drei.«
Knirschend schloss sich der marmorne Deckel, und Amadeo lag in vollständiger Dunkelheit.
Sekunden später waren die Stimmen seiner Verfolger heran.
LXXVII
Die Laute der Männer klangen dumpf wie in einer Gruft.
Amadeo unterdrückte einen hysterischen Lachanfall. Er war in einer Gruft. Er lag im Sarkophag eines toten Papstes. Wie viel Luft zum Atmen blieb ihm wohl in diesem Gefängnis des Todes? Unter seinen Fingern spürte er den weichen Stoff
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