Die letzte Praline
Atelier sei dort, weil selbst im Hochsommer kühle Temperaturen herrschten und so die Skulpturen nicht schmolzen.
Ohne anzuklopfen, trat Pit ein. De Vaele trug einen Laborkittel und sein Haar so wallend, wirr und weiß, als hätte er eben erst mit den Fingern in die Steckdose gelangt. Seine Augen zuckten wie Wellensittiche auf LSD, während er mit weit rudernden Armen weiche Schokolade auf eine Skulptur klatschte.
»Kossitzke mein Name.« Er reichte Fred de Vaele die Hand, doch dieser warf ihm nur einen kurzen, desinteressierten Blick zu. »Früher hat hier also Einstein gelebt?«
»Das tut er immer noch. Ich bin Einstein. Der wiedergeborene Einstein selbstverständlich. Was er, also ich, mit den Formeln der Physik machte, das stelle ich heute mit Schokolade an. Ich transzendiere sie, schaffe Neues und bringe zusammen, was zusammengehört.«
Pit sah sich den Burschen genauer an. Gehörte definitiv in die Klapse. »Wieso sind Sie sich so sicher, dass Sie Einstein sind?«
»Man spürt so etwas. Ich spürte es, als ich eines Nachts die Relativität des menschlichen Seins begriff. Dann las ich alles, was ich über ihn, also über mich, finden konnte, und entdeckte all die Parallelen. Wir sind eins.« Er strich sich die Mähne mit beiden Händen schwungvoll zurück. »So wie der Dalai-Lama stets wiedergeboren wird, so werden auch andere große Persönlichkeiten wiedergeboren. Wir sind die Stützpfeiler der Menschheit.«
»Und als Stützpfeiler ist man natürlich kein bisschen unbescheiden.«
»Ich habe keinen Grund, bescheiden zu sein. Wer sind Sie überhaupt? Wieso stören Sie mich in meinem Refugium? Wir haben keinen Termin. Normalerweise wird man nicht vorgelassen ohne Termin.«
Anscheinend hatte die Haushälterin sich nicht getraut, ihn abzuweisen.
Kluge Frau.
Pit hatte sich eine Geschichte für diesen Undercovereinsatz zurechtgelegt. »Ich will mich als Model vorstellen. Ich bin der Schokobär der Weltmeisterschaft.«
»Ach, Sie sind das? Die Sache war ja wohl eher ein Versehen, wie mir Madame Baels berichtet hat. Was soll das überhaupt sein, ein Schokobär? Bei den Azteken war es der Affe, der den Menschen die Kakaobohne brachte. Ein Bär hat nichts, aber auch gar nichts mit Schokolade zu tun.«
»Dieser Bär hier schon. Professor Dr. Dr. Adalbert Bietigheim wünscht eine Figur von mir, also nur vom Kopf, das reicht ihm. So bis zu den Schultern.«
»Eine Büste.«
»Genau so einen Apparat. Können Sie das transzendieren?«
»Ich bin gerade mitten in einer wichtigen, politisch hochbrisanten Arbeit.« De Vaele wies auf ein Schokoladengebilde, das aussah wie eine Mischung aus Eiffelturm, Tower Bridge, Kolosseum und Brandenburger Tor. Falls alle in der Sonne zu einem Klumpen zusammenflossen. »Ich nenne sie Europa-Matsch.«
»Passt«, bestätigte Pit aufrichtig.
»Danke.«
»Sie müssen mich ja nicht jetzt sofort in eine Brüste verwandeln.«
»Büste.«
»Genau. Ich wollte mich nur mal vorstellen. Schauen, wie das so ist, wenn einer Schokolade nicht wegmampft, sondern damit Kunst fabriziert. Ich hab Sie mir dicker vorgestellt. Also mit Plautze.« Pit klopfte mit beiden Händen auf seinen Bauch.
»Ich esse Schokolade nicht. Grundsätzlich. Unsere Beziehung ist anderer Art. Wir lieben und hassen uns. Schokolade ist ein tückisches Material. Nicht wie Stein, aus dem Sie die Form in aller Ruhe herausmeißeln können, nicht wie Ton, der sich in die Hände schmiegt und weich auf Druck reagiert, nicht wie Metall, das sich biegen und schlagen lässt. Schokolade reagiert viel feinfühliger auf Temperatur, zu kühl, und sie wird hart, zu warm, und sie wird zu weich oder gar flüssig. Stellen Sie sich vor, ein Haus aus Quark errichten zu müssen. Der ist niemals zu fassen, immer wieder rinnt er durch die Hände. So ist es auch mit Schokolade. Natürlich könnte ich tricksen, der Schokolade etwas zusetzen, doch das wäre Betrug.
Natürlich kann man sie in Formen gießen, und diese verwende ich auch gelegentlich, doch das beraubt die Schokolade ihrer Textur. Deshalb arbeite ich alle Details stets per Hand aus, ich ringe mit der Schokolade, kämpfe mit ihren Defiziten und versuche, daraus Stärke zu gewinnen. Können Sie mir folgen?«
»Ich denke die ganze Zeit darüber nach, wie ich aus meinem Lieblingsmaterial etwas bauen könnte.«
»Und welches Material ist das?«, fragte de Vaele mit emporgezogenen Augenbrauen.
»Mettwurst.«
»Ach?«
»Leberwurst geht auch. Mit Krakauern als Rahmen.«
Fred de
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