Die letzte Praline
Weltmeisterschaft!«, ertönte nun die Stimme der älteren Dame im Fenster oben links. Auch hier war die Ähnlichkeit unverkennbar. Vermutlich seine Mutter.
Jetzt wurde er laut. «Wie denn, wenn ich ganz oben auf der Liste eines verrückten Killers stehe?«
»Das Gespräch ist beendet«, verkündete nun erneut der Mann unten rechts.
Die Gesichter verschwanden eines nach dem anderen vom Bildschirm. An ihre Stelle trat Schwärze.
Der junge Franzose drehte sich zu Pit um. Seine Augen waren gefüllt, aber nicht mit Tränen. In ihnen lag etwas Schwereres, das sie rötete und sich nicht einfach wegreiben ließ. Es war Angst. Die Angst eines Mannes, der wusste, dass der nächste Tag schon sein letzter sein konnte.
Adalbert zögerte. Seine rechte Hand wollte die linke von Madame Baels halten. Wie ein selbstständiges Wesen drückte sie von innen gegen den Stoff seiner Jackentasche. Niemand konnte etwa dagegen haben, wenn sie es täte, oder? Hand in Hand durch Brügge zu gehen würde ja nichts bedeuten, selbst Kinder taten es. Es war ein harmloses Zeichen der Zuneigung. Fast eine Geste reiner Höflichkeit.
Adalbert ließ seine Hand hinaus an die frische Luft und machen, was sie wollte. Josephine-Charlotte Baels Hand wollte anscheinend auch. Und zwar sofort.
Brügge sah mit einem Mal ganz anders aus.
Die Gassen waren nicht länger eng, sondern pittoresk, die Sonne nicht verhangen, sondern von einem zarten Pastell. Und überhaupt war Brügge fraglos die schönste Stadt der Welt.
»Das dahinten, mein lieber Adalbert, das graue Haus mit der Nummer 38, ist das älteste Wohnhaus von Brügge, 1468 erbaut! Das Motto von João Vasquez, des Mannes, der es damals beauftragte, können Sie dort an der Natursteinfassade lesen: A bon compte avenir.«
»Die Zukunft gehört dem, der gut aufpasst.« Adalbert lächelte. »Wie recht er hat. Aber lassen Sie uns gleich weiter spazieren, mir ist heute nach gehen, gehen, gehen.«
Das stimmte nicht. Ihm war danach, Mareijke Dovendaan zu verfolgen. Am Morgen nach einer erfreulich ereignislosen Nacht – zumindest was das Auftauchen von Männern in Kostüm betraf – waren Phinchen und er zum Museum gegangen, um die Details der Finalrunde zu besprechen. Er hatte natürlich nur Augen für die Museumsleiterin gehabt, zumindest bis Mareijke Dovendaan den Raum betrat. Fahrig war sie gewesen, ihre Pupillen aufgescheucht wie Hühner. Sie erzählte, dass sie einen Anruf auf ihrem tragbaren Telefon erhalten habe und nun ganz schnell nach Hause müsse, ihrer Mutter gehe es schlecht und ihr Vater sei auf der Arbeit.
Madame Baels gab ihr selbstverständlich frei und Genesungswünsche mit auf den Weg.
Doch Adalbert hatte gleich erkannt, dass Mareijke Dovendaans Unruhe nicht in Sorgen und Kummer begründet war. Immer wieder hatte sie ihr Kleid zurechtgezupft und den Sitz ihrer Ohrringe kontrolliert. Da musste etwas anderes dahinterstecken.
Der Professor hatte es daraufhin plötzlich sehr eilig gehabt, Benno angeleint und sich unter dem Vorwand, der Vierbeiner würde Anzeichen dringenden Wasserlassens zeigen, für einen Spaziergang verabschiedet.
Benno pennte.
»Klares Zeichen dafür, dass er muss. Sonst schläft er nie so tief. Wenn ich jetzt nicht mit ihm gehe, passiert gleich ein Unglück.«
»Wissen Sie was? Ich komme mit.« Madame Baels griff sich ihren Mantel. »Ein wenig frische Luft tut doch immer gut. Da werden die Wangen so schön rosig. Wie sonst nur beim Küssen.« Sie warf ihm einen schmachtenden Blick zu. »Und Sie können mir etwas über Ihre legendäre Abhandlung ›Kakaobutter und Kakaomasse – Die ungleichen Brüder, eine Streitschrift‹ erzählen. Ein famoses Werk!«
Adalbert nickte, da hatte sie recht. »Ebenso verhält es sich mit ›Die Milchschokolade – Ein Missverständnis in holistisch-historischer Darstellung unter Einbeziehung von Kinderriegeln‹.«
»Ich wollte es gerade erwähnen. Schlaflose Nächte hat es mir bereitet.«
»Nicht nur Ihnen, Phinchen.« Adalbert lächelte. Diese Frau verstand ihn wirklich!
Und so kam es, dass er nun mit diesem prachtvollen Weib Mareijke Dovendaan verfolgte – ohne dass eine der beiden Frauen wusste, was vor sich ging.
Die St.-Salvatorskoorstraat mündete nach rund hundert Metern in den Simon Stevinplein. Viele der rings um den malerischen kleinen Platz liegenden Gasthäuser hatten Stühle und Tische herausgestellt, von denen die meisten besetzt waren. Bäume bildeten ein Karree, in dessen Mitte ein Denkmal für Brügges
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