Die letzte Praline
sogar eine kleine Schachtel Pralinen in der Tasche. Brugsche Swaentjes!«
Der Schwan war das Wappentier Brügges und die schokoladige Stadtpraline mit einer würzigen Ganache gefüllt, deren genaue Zusammensetzung ein Geheimnis blieb. Plötzlich hatte der Professor eine davon im Mund. Phinchen sah ihm tief in die Augen. »Jetzt benötigen wir nur noch einen Kuss. Ganz schnell.« Ihr Gesicht kam näher. Die Praline war von ordentlicher Qualität, wenn auch die verwendete Schokolade höchsten Ansprüchen nicht genügte und sie deutlich zu viel Zucker sowie Vanillearoma anstatt echter Vanille enthielt. Ein Problem hatte Adalbert zudem mit der Schwanenform. Die Ablehnung gegenüber diesem Großgeflügel war durch seinen Cambridge-Aufenthalt weiter gewachsen. Brügge war aufgrund eines Besuchs des ungeliebten Kaisers Maximilian von Österreich im 15. Jahrhundert zu seinem Wappentier gekommen. Die Bürger riefen damals zum Aufstand gegen ihn und seine Steuererhöhungen auf und sperrten den Kaiser mitsamt des von ihm eingesetzten Bürgermeisters Pieter Lanckhals ein. Letzteren richteten sie später hin. Als Maximilian wieder frei war, erließ er das Dekret, dass auf den Grachten Brügges Schwäne – Langhälse – gehalten werden müssen, denn ein weißer Schwan war das Wappentier von Pieter Lanckhals. Ob Phinchen diese Geschichte kannte? Ganz sicher, doch vielleicht nicht in sämtlichen historischen Details.
Adalbert öffnete gerade den Mund, um ihr diese ausführlich zu schildern, als sich ihre Lippen auf die seinen legten. Sie schmeckte nach Schokolade. Er war so überrascht, dass er vergaß zurückzuküssen. Es passierte ihm selten, einfach so geküsst zu werden. Eigentlich nie.
Madame Baels setzte ab und holte tief Luft. »Das habe ich jetzt gebraucht.« Sie fuhr sich durch ihr wallendes Haar. »Und ich muss sagen, mein lieber Adalbert, Pralinen allein sind schon sehr gut, aber in Kombination mit Ihren Küssen sind sie sogar noch besser.« Sie kicherte wie ein kleines Mädchen. »Das müssen wir bald wiederholen. Sie sind ein Genuss, mein Lieber.«
» Und kein Genuss ist vorübergehend, denn der Eindruck, den er zurücklässt, ist bleibend. – Wilhelm Meisters Lehrjahre, Johann Wolfgang von Goethe. Sie sind auch ein Genuss, Phinchen, ein Hochgenuss sogar.«
»Na, dann wollen wir doch gleich noch mal …«
Ihr Gesicht näherte sich erneut, doch Mareijke Dovendaan nahm die nächste Abzweigung.
Der Professor marschierte los und zog Phinchen hinter sich her.
»Lassen Sie Mareijke doch gehen«, sagte sie vorwurfsvoll. »Es ist äußerst uncharmant, mich wie die zweite Geige zu behandeln.«
Bietigheim war ehrlich konsterniert. »Sie wissen, dass ich Mareijke Dovendaan verfolge?«
»Mein lieber Adalbert, eine Frau spürt, wenn ihr nicht die Aufmerksamkeit zuteilwird, die sie verdient hat.« Sie warf ihm einen strengen Blick zu.
»Ich bitte vielmals um Verzeihung, Gnädigste. Sie haben völlig recht. Aber es geht um den Mord, und Mareijke …«
»Sie müssen Mareijke nicht verfolgen.«
»Wie kommen Sie zu dieser Ansicht?« Adalbert legte seinen Kopf leicht schief.
»Sie trifft sich mit Fred de Vaele.«
»Genau darum geht es mir ja! Sie haben solch ein gutes, reines Herz, Phinchen, deshalb können Sie sich nicht in die Psyche einer Mörderin versetzen. Mareijke Dovendaan wollte de Vaele für sich haben und musste Beatrice Reekmans deshalb ausschalten.«
Die amtierende Chocofee betrat ein Ladenlokal in der Steenstraat, auf welcher sich allerlei Geschäfte, Boutiquen und Shops aneinanderreihten und sie zur belebtesten Einkaufsstraße Brügges machten. Einige der Häuser gehörten einst den Zünften, wovon noch immer Namen und Symbole zeugten. Der Laden, in dem Mareijke Dovendaan verschwunden war, stand leer. Plakate kündeten davon, dass hier bald eine neue Chocolaterie eröffnen würde – von Urs Egeli, der sich als erster Schweizer hierherwagte. Das hatte im Vorfeld bereits zu Unruhen unter den hiesigen Schokoladenkünstlern geführt.
Adalbert stellte sich auf die Zehenspitzen und blickte durch das zu drei Vierteln mit Zeitungspapier abgeklebte Schaufenster. Die Regale waren bereits aufgebaut, allesamt rot wie die Schweizer Nationalflagge, der Boden weiß gekachelt, eine gläserne Kühltheke, an der Wand dahinter eine riesige Fototapete mit dem Matterhorn.
In der Mitte des Raumes stand de Vaele und arbeitete mit tropfenden braunen Händen an einer hüfthohen Schokoladenskulptur. Mareijke Dovendaan
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