Die letzte Praline
gelaunt und gereizt gewesen, vielleicht wurde ihr alles doch langsam zu viel. Der Mord an van der Elst hatte ihr auf jeden Fall den Rest gegeben. Sie sprach kaum noch, jegliche Spannkraft schien aus ihrem imposanten Körper gewichen.
Beim Anblick der Leiche verschlug es Adalbert den Atem. Er würde sich nie daran gewöhnen.
»Es ist wahrlich kein schöner Anblick, meine Teuerste. Sind Sie sicher, dass Sie …?«
»Ja«, unterbrach sie ihn harsch.
Adalbert trat zur Seite, wobei er sich unter einen Ast bücken musste. Die Gebüsche bildeten mit ihrem Blätterdach an dieser Stelle eine natürliche Höhle, nicht einsehbar von Treppe, Straße oder Parkplatz. Ein hervorragender Platz für einen Mord.
Madame Baels schaute die Leiche zitternd an, Tränen rannen über ihre Wangen und das Kinn hinunter bis zum Kragen ihrer Bluse. Sie ging in die Knie und schloss dem Toten die Augen.
Auch der Professor kniete sich hin, allerdings, um etwas von der Schokolade abzubrechen, mit der van der Elst teilweise bedeckt worden war. Er ließ sie langsam am Gaumen schmelzen und schloss die Augen, um alle Aromen, die Süße der Schokolade, ihren Anteil an Kakaobutter und Zucker, ihre Herkunft, um alles erspüren zu können.
Als er die Augen wieder öffnete, nickte er zufrieden.
Es gab Schokoladen, die weltweit nur von einem einzigen Chocolatier erzeugt wurden. Dies war eine solche.
Zur gleichen Zeit lief Pit. Nicht im gesitteten Fettverbrennungsbereich von 120 bis 140 Pulsschlägen pro Minute, sondern so schnell, wie er nur konnte. So schnell, dass er schon nicht mehr wusste, wie er stoppen sollte, ebenso wenig, wie es eine Kanonenkugel wusste. Sie hielt erst, wenn sie ihr Ziel erreichte und in dieses einschlug. Die Kanonenkugel interessierte nicht, was links und rechts von ihr geschah.
Oder hinter ihr.
Pit hatte neben der Leiche eine Thermoskanne gefunden, aus der warme Schokolade lief. Da war ihm klar geworden, dass der Mörder nicht weit sein konnte, dass sie ihn gestört haben mussten, als er die Schokolade auf der Leiche verteilt hatte. Dann war Pit eingefallen, dass er beim Durchkämmen der Düne auf dem benachbarten Parkplatz einen Wagen gesehen hatte, genau einen einzigen. Einen schwarzen VW Golf IV, wie es ihn hunderttausendfach gab.
Die Chancen standen nicht schlecht, dass genau dieser zum Täter gehörte.
Als Pit das bewusst wurde, hatte er ohne Umschweife die Lunte gezündet und sich als Kanonenkugel in Richtung Golf geschossen. Dabei brüllte er laut: »Attacke!«, wie es Teddy Brewster in seinem Lieblingsfilm »Arsen und Spitzenhäubchen« tat. »Attacke!« wollte er schon immer mal brüllen, und dies schien eine wunderbare Gelegenheit. Dass es den Mörder warnte, kam ihm nicht in den Sinn, während er eine Schneise in die Dünenlandschaft schlug.
Schon bald war das Keuchen seines Atems so laut, dass Pit nichts anderes mehr hörte.
Pit hörte nicht die Schritte.
Pit hörte nicht den schweren Atem hinter sich.
Pit hörte nicht den Schlag.
Doch er spürte den Schmerz am Hinterkopf, spürte, wie er fiel, sah den Boden näher kommen, und dann sah er nichts mehr, hörte nichts mehr, spürte nichts mehr. Wie defekte Neonreklamen leuchteten Schlagzeilen der Morgenzeitung in seinem Kopf auf. Sie war voll gewesen mit den Geschehnissen im Zirkuszelt, dem Plan der Frittenolympiade, das Brüsseler Atomium aus Kartoffelstäbchen nachzubauen, und der Klage Urs Egelis gegen sein Ausscheiden im Halbfinale. Dann flackerten Bilder vom Heiligen Blut auf, von der Leiche und von Diana. Dann nur noch Diana. Doch die Neonreklamen flackerten nur kurz.
Dann Finsternis.
KAPITEL 9
Das Leben ist wie eine Schachtel Pralinen …
… zu viel Sonne schadet.
Bietigheim wich keinen Zentimeter von der Leiche. Es war, als ob der Schock die sperrigen Brocken in seinem Kopf pulverisierte und den Weg frei machte für die Lösung des Falls. Sein Blick haftete auf Franky van der Elsts totem Gesicht. Doch den Täter zu ahnen war nicht dasselbe, wie ihn zu kennen, und ihn zu kennen bedeutete noch lange nicht, ihn überführen zu können. Und doch.
Bietigheim fühlte sich, als hielte er ein Seil in der Hand, und wenn er nur lang genug daran zöge, würde der Mörder irgendwann vor ihm stehen. Er sollte verdammt sein, wenn er es losließ.
Der Professor beugte sich über die Leiche, zog die Pinzette aus seinem Schweizer Offiziersmesser und entfernte vorsichtig die kleinste der schwarzen Glasscherben aus dem Hals van der Elsts. Kurz besah er
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