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Die letzte Reifung

Die letzte Reifung

Titel: Die letzte Reifung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Sebastian Henn
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hätte.
    Also versteckte er sich.
    Er war früher schon gut im Verstecken gewesen. Seine Mutter hatte ihn einmal einen ganzen Sonntag vergeblich gesucht, weil er in die halbvolle Regentonne geklettert war. Es war ein großartiges Erfolgserlebnis – dem eine großartige Erkältung gefolgt war.
    Diesmal schlüpfte er nicht in die Regentonne, sondern in den Kleiderschrank, was unglaublich kindisch war und unglaublich peinlich werden würde, sollte Béatrice ihn hier entdecken. Es würde alle seine Chancen, bei ihr zu landen, mindestens bis zur nächsten Eiszeit zerstören.
    Drei weitere Personen trafen ein, den schweren Schritten nach zu urteilen, allesamt Männer.
    Der Schrank war verhältnismäßig tief, doch Jan musste trotzdem seine Beine verknoten. Nach fünf Minuten waren sie eingeschlafen und fingen an zu kribbeln, als wäre Biene Maja mit all ihren Insektenfreunden zu Besuch gekommen.
    Fünf Minuten der Angst, dass jemand den Kleiderschrank öffnen und seine Jacke hineinhängen würde. Doch draußen war es Gott sei Dank so heiß, dass niemand eine trug. Im Winter wäre er sicher längst aufgeflogen. Noch nie fand er den Sommer so klasse. Doch ein Problem gab es: Die Stimmen der Anwesenden konnte er hören, aber sehen konnte er nichts. Der Schrank musste ein kleines bisschen aufgehen, nur einen winzigen Spalt, mehr nicht. Das würde sicher niemandem auffallen. Er würde nur ganz vorsichtig gegen die Tür drücken.
    Knarrrrrrrz!
    Das Gespräch stoppte.
    »Das macht er immer«, sagte Béatrice. »Die Scharniere sind antik. Lohnt nicht, ihn wieder zuzumachen.«
    Ein Lob den alten Möbeln! Jetzt war die Sicht frei. Sie saßen zu viert am Tisch. Ein Mann stand daneben, Gendarme Benoit Sokal. Er hatte eine neue Frisur, die im Gegensatz zur alten zu seinem Gesicht passte. Er streckte das fliehende Kinn vor. »Das ist das letzte Mal, okay? Ich habe bei der Polizei gekündigt, nehme nun meinen Resturlaub und nächste Woche bin ich weg aus Epoigey. Ich mache jetzt mein eigenes Ding in Paris.«
    »Gott sei mit dir«, sagte der Mann am Ende der Tafel. Jan kam mit den Augen näher an den Schlitz. Es war der Pfarrer von Epoigey. »Auch wenn dies das erste Mal wäre…« Der Gottesmann kicherte wie ein kleines Mädchen.
    Nun konnte Jan auch einen Blick auf alle anderen werfen. Ebenfalls anwesend waren Bürgermeister Jules Bigot sowie ein Mann, bei dem es sich laut Adalberts Beschreibung zufolge nur um den Chef des Käseriesen Frombel, Claude Bourcin, handeln konnte. Es sei denn, Louis de Funès wäre von den Toten auferstanden.
    Ein Stuhl blieb leer, Béatrice hatte einen schwarzen Schal über die Lehne gehängt. Hatte hier früher Madame Poincaré gesessen? Oder Béatrice' Patenonkel Jean-François Vesnin?
    Benoit verließ kurz den Raum und kam mit einem 12er Karton Wein zurück. Das wiederholte er mehrmals und sortierte die Flaschen schließlich auf dem Tisch. Dort fand sich außerdem eine Brotschale mit Gougères, einem köstlichen Brandteiggebäck mit Käse, das auf der Zunge zerging und häufig bei Verkostungen Verwendung fand, da es den ungestümen Geschmack jungen Weins milderte.
    Dann begann das Spiel.
    Jan brauchte einige Zeit, bis er begriff, was da vor seinen Augen ablief. Sie spielten Poker.
    Aber mit Wein. Statt 52 Karten gab es 52 Weine.
    Bei Spielkarten gab es Karo, Herz, Pik und Kreuz. Hier schien es vier Jahrgänge zu geben. Und statt den einzelnen Kartenwerten – von Sieben bis Ass – gab es Weine in aufsteigender Qualität. Das höchste Blatt, ein Royal Flush, waren also die fünf besten Weine aus dem herausragendsten, dem Kreuz-Jahrgang. Benoit tauschte Euro-Scheine gegen Champagnerkorken, normale Weinkorken, billige Presskorken und Plastikkorken, die dann wie Kasino-Chips gesetzt wurden.
    Dieses Spiel war weitaus schwieriger für alle Beteiligten als ein normales Pokerspiel. Denn von den Flaschen waren die Etiketten und Kapseln gelöst, nur Nummern standen darauf, die vermutlich Benoit, der wohl der Zeremonienmeister war, als Einzigem verrieten, was darin steckte. Wusste man also beim normalen Poker, was man in der Hand hielt, musste der Spieler bei dieser Partie durch Schnuppern und Trinken erst einmal herausfinden, was er im Glas hatte. Und wie sie schnupperten! Und schlürften! Und danach in einen silbernen Kübel spuckten wie eine Herde Lamas. Nur der Pfarrer spuckte nicht, er trank.
    Nun ging es ans Setzen und der Bürgermeister hielt plötzlich Béatrice' Hand. »Nicht zu viel, Mädchen. Wir wollen

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