Die letzte Reifung
Sie was? Sie haben recht. Ihr Bruder war es nicht. Und wissen Sie, wie ich darauf komme? Nein? Ich will es Ihnen sagen: Es handelt sich gar nicht um die Rezeptur des Vacherin d'Epoigey. Wenn ich mich richtig erinnere, sind Mengen- und Zeitangaben mehrfach ausradiert oder durchgestrichen worden. Bei einer gestohlenen oder erpressten Rezeptur wäre das nicht der Fall. Vermutlich hatte Ihr Bruder eine Wette mit Madeleine Poincaré laufen. Er wollte beweisen, dass er erraten konnte, wie sie den Käse herstellt.«
Jules Bigots Schläfen pochten. »Und das Blut?
»Wenn ich ein Zeitungsrätsel knacken muss, dann trage ich es immer bei mir. Ihr Bruder vielleicht ebenfalls. Wie ich Ihren Gemeindeblättern entnommen habe, betreut er unter anderem die örtliche Blutspendenaktion des Roten Kreuzes. Falls er das Rezeptur-Rätsel während dieser bei sich trug, ging vielleicht etwas daneben. Oder es passierte, als er sich Bandagen aus seiner Nachttischschublade holte, in der ich die Rezeptur fand. Ihr Bruder ist fraglos unschuldig. Das ist mir jetzt völlig klar.«
Die Leere des unentwegt expandierenden Universums konnte nicht größer sein als die im Gesicht von Jules Bigot.
Die entstehende Stille bot dem Professor Gelegenheit, den Toilettengeruch weiter zu analysieren. Käse schaffte diese Stufe des Gestanks nicht, er musste in der Pflanzenwelt suchen. Die stachelige Frucht des Zibetbaumes, die Durian, galt als unfassbare Stinkbombe. Sie sonderte einen solch widerlich intensiven Geruch nach faulen Eiern ab, dass sie in Hotels und Flugzeugen nicht erlaubt war. Noch schlimmer war nur die Titanwurz aus den Urwäldern Indonesiens. Ihre Blüte war mit nahezu drei Metern Höhe und einem Umfang von anderthalb Metern die größte der Welt. Sie erblühte nur alle neun Jahre und gab dann alles. Der Aasgeruch lockte Käfer und anderes Getier in ihren Kelch, um dort Eier zu legen und die Titanwurz so zu bestäuben. Doch ob die Tropenpflanze es wirklich mit diesem atemberaubenden Klo aufnehmen konnte, wusste Bietigheim nicht mit Bestimmtheit zu sagen.
Jules Bigot fand seine Sprache wieder. »Und das sagen Sie mir erst jetzt ?«
»Es ist mir gerade erst klar geworden.« Das war natürlich eine dreiste Lüge. Der Professor hatte es schon gewusst, als er das Pfarrhaus verließ. Einige Teile der Rezeptur hatten einfach wenig Sinn gemacht. Zum Beispiel die Zahl, wie oft der Käse während der Reifung gewendet werden musste. Sie erschien ihm einen Hauch zu hoch. Eine Kleinigkeit, doch diese hatte seinen Blick auf andere Details wie die Reifedauer und die Milchmenge gelenkt.
Und hätte Jules Bigot ihn damals nicht so verspottet, wäre die Wahrheit schon viel früher ans Licht gekommen. Aber manchmal ließ sich die Wahrheit eben Zeit.
Als der Professor wieder aus der Toilette trat, war der Käseigel fertig und mit einem gigantischen roten Tuch bedeckt. Renas Idee.
Es war Zeit, den Mörder aus seinem Loch zu locken.
Die Studenten hatten schon ihre Gesangspositionen eingenommen.
Selbstverständlich würde ihr Professor sie dirigieren.
Jan drückte Béatrice fester an sich. Die Angst, sie inmitten von so vielen Menschen zu verlieren, war immens. Immerhin hatten sie sich gerade erst gefunden. Eben hatte sie ihn erstmals als ihren Freund vorgestellt. Der Klang dieses Wortes aus ihrem Mund gefiel ihm sehr.
Die Stimmung war ausgelassen, doch fast, als wäre der Hahn etwas zu weit aufgedreht worden. Als wollten alle zeigen, wie unbeschwert man feiern konnte, obwohl hier eine beispiellose Mordserie ihren Anfang genommen hatte.
Über einhundert verschiedene Käsesorten waren für den Weltrekord-Igel verarbeitet worden. Wegen der Hitze des Tages lag ihr würziger Geruch nun wie Nebel über der Szenerie.
»Ich finde super, was dein Cousin macht«, sagte Béatrice. »Das hätte ich ihm gar nicht zugetraut. Er kannte Madeleine schließlich kaum.«
»Aber ihren Käse.«
»Er muss ein weiches Herz haben.«
»Keiner versteckt es so gut wie er.« Jan gab ihr einen Kuss. »Meins dagegen ist …«
»Nicht reden, handeln!«
Und da musste er ihr gleich noch einen Kuss geben.
Béatrice schätzte an Bietigheims Idee vor allem, dass es nicht bloß um den Eintrag ins »Guinness Buch der Rekorde« ging. Zwei Euro pro verkauftem Käsepikser flossen in den Kauf eines Kupferschilds, das an Madeleine Poincarés Haus angebracht werden sollte. Nur aus diesem Grund hatte sich das Dorf auch bereit erklärt zu helfen. Epoigeys Winzer verkauften Wein und spendeten
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