Die letzte Rune 01 - Das Ruinentor
Als König Boreas' Mündel und Lady mit der höchsten Stellung auf Calavere fiel es in ihren Aufgabenbereich, den Haushalt für die in kurzer Zeit eintreffenden Adligen vorzubereiten. Räume, die seit Jahrzehnten nicht mehr benutzt worden waren, mußten wieder geöffnet und gelüftet werden. Von den Vorräten im Keller mußte eine Bestandsaufnahme gemacht werden. Und da waren die zahllosen anderen Kleinigkeiten, die es zu überwachen galt; von der Frage, ob es auch tatsächlich genügend frische Bettwäsche für alle Gäste gab, bis hin zur Überprüfung eines jeden Löffels in der Spülküche, um sich zu vergewissern, daß sie auf Hochglanz poliert worden waren. Allein schon die Aufzählung von Aryns Tagwerk machte Grace müde. Sie kam zu dem Schluß, daß sie lieber an einem Vollmondfreitag eine Doppelschicht in der Notaufnahme arbeiten würde, statt auch nur einen Tag Schloßherrin zu sein.
Um Grace in der Zeit ihrer Abwesenheit beschäftigt zu halten, brachte Aryn einen Armvoll Bücher aus der Schloßbibliothek mit.
»Oh!« keuchte Aryn besorgt, als sie den Bücherstapel auf der Kommode absetzte. »Du kannst doch lesen, oder, Grace? Ich bin einfach davon ausgegangen, daß eine Lady von deiner Stellung … das heißt … falls du es nicht gelernt hast, ist das völlig in Ordnung …«
Grace hob die Hand. »Schon in Ordnung, Aryn. Ja, ich kann lesen. Wo ich herkomme, kann fast jeder lesen. Nun, das heißt, sie können lesen. Ich bin mir nicht so sicher, daß sie es auch tun.«
Aryn sah entsetzt aus. »Nur ein Narr würde eine solch kostbare Gabe verschwenden.«
»Da stimme ich dir voll und ganz zu.«
Solche Bücher hatte Grace noch nie gesehen. Jeder Band war mühsam mit der Hand geschrieben und in mit goldenen und silbernen Ranken verziertem Leder eingebunden. Sie schlug einen auf und blätterte die steifen Pergamentseiten mit wachsendem Entzücken um, denn die Ränder waren mit ausgeklügelten Zeichnungen von Monden, Sternen und ineinander verschlungenen Blättern verziert. Es handelte sich hier weniger um Bücher als vielmehr um lesbare Kunstobjekte. Grace sammelte sie begierig auf.
Während Aryn ihren diversen Pflichten im Schloß nachging, saß Grace an mehreren nachfolgenden Nachmittagen auf dem riesigen Bett und las. Bei den Büchern handelte es sich hauptsächlich um historische Werke, die die Gründung Calavans und – weitaus weniger ausführlich – die der anderen Domänen beschrieben. Das meiste war eine ziemlich mühsame Lektüre, lange Listen, die die Namen der Adligen und Ritter aufzählten, die bei diesem Scharmützel mit Barbaren oder jener Schlacht mit einem angrenzenden Lehnsherrn gefallen waren. Aber sie reichte aus, um Grace erkennen zu lassen, daß, egal wie nett diese Menschen sie auch aufgenommen hatten, es sich hier um ein rauhes Land handelte, das vor gar nicht mal so langer Zeit der Wildnis mit Feuer und Schwert abgerungen worden war.
Während der Lektüre eines dieser Bücher entdeckte Grace auch das Geheimnis der halben Silbermünze, die der seltsame Prediger ihr vor der Ruine des Beckett-Strange-Heims für Kinder daheim auf der Erde gegeben hatte.
Eines Abends schlüpfte sie aus ihrem Gewand und stieg nur mit ihrem leinenen Unterhemd bekleidet ins Bett. Sie hatte eines der Bücher dabei, um im Schein der Talgkerze zu lesen. Doch als sie das Buch aufschlug, stellten die Worte auf der Seite bloß ein Kauderwelsch dar, als wären sie in einer alten, fremden Sprache geschrieben. Und doch war es keine Stunde her, daß sie in genau diesem Band gelesen hatte.
Moment mal, Grace. Du bist Wissenschaftlerin, also verhalte dich rational, was diese Sache betrifft. Was ist jetzt anders als eben?
Vielleicht war es Intuition. Vielleicht war es ein Geistesblitz, der auf Spuren oder Beweisen basierte, die ihr zuvor unbewußt aufgefallen waren. Wie dem auch sei, Grace lief ein Schauder über den Rücken. Sie ging zu ihrem fallen gelassenen Gewand, griff in den an der Schärpe festgemachten Lederbeutel und zog die Münze hervor.
Nach ein paar kleinen Experimenten hatte sich ihre ursprüngliche Eingebung bestätigt. Befand sich die Münze in ihrer Hand oder irgendwo in ihrer Nähe, konnte sie die Bücher lesen, als wären sie in normalem, wenn auch etwas archaischem Englisch geschrieben. Ohne Kontakt mit der Münze waren die Worte bedeutungsloses Gekritzel. Als eine Dienstmagd eintrat, machte Grace eine weitere Entdeckung. Die Münze beeinflußte nicht nur das geschriebene, sondern auch
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