Die letzte Rune 01 - Das Ruinentor
krümmte, als ihn die Flammen verschlangen, und dabei voller Irrsinn heiter kicherte.
»Das Mondlicht reicht aus, um dabei reiten zu können«, sagte Falken. »Laßt uns die Pferde holen.«
45
Die Erziehung der Lady Grace von Beckett in höfischen Manieren und Feudalpolitik begann prompt bei Einbruch der Morgendämmerung am Tag nach ihrer Unterhaltung mit König Boreas.
Ein Glöckchen weckte sie auf. Instinktiv fuhr ihre Hand zur Hüfte und tastete suchend nach ihrem Pieper. Das Krankenhaus rief sie. Vermutlich Morty Underwood, zum Teufel mit dem kleinen Wurm. Sie tastete herum, aber ihre blind suchenden Finger fanden lediglich weichen Stoff. Dann bimmelte die Glocke erneut, und es handelte sich nicht um das elektronische Jaulen eines Silikonchips, sondern um den hellen Laut von Metall auf Metall. Sie warf die Bettdecke zurück und schoß in die Höhe. Die Erinnerungen an den Vortag kamen zurück. Das Denver Memorial Hospital war eine Welt entfernt. Der Gedanke hätte Anlaß zur Sorge sein müssen. Statt dessen durchströmte sie ein Gefühl wie Erleichterung.
Aryn stand am Fuße des hohen, vierpfostigen Bettes, einen fröhlichen Ausdruck auf dem hübschen Gesicht. Heute trug sie ein Gewand von einem helleren Blau, das dem winterlichen Morgenhimmel jenseits des Gemachfensters entsprach. In der linken Hand hielt sie eine silberne Glocke.
»Ich freue mich, daß du endlich aufgewacht bist, Grace.« Die Baronesse stellte die Glocke auf einer Anrichte ab. »Ich hatte schon befürchtet, ein für diese Aufgabe zu kleines Werkzeug gewählt zu haben und daß ich statt dessen die Trompeter des Königs rufen lassen müßte.«
»Hm«, machte Grace. Es war viel zu früh am Morgen für Humor.
Sie kletterte mit steifen Bewegungen aus dem Bett, noch immer mit dem zerknitterten Wams und den Hosen des Vortages gekleidet. Obwohl eine Menge mit ihr geschehen war, war es schließlich erst einen Tag her, daß der Ritter Durge sie in der Schneewehe liegend gefunden hatte. Ihr taten die Knochen weh, und sie zitterte wieder.
Aryns Heiterkeit wurde von Sorge verdrängt. »Alles in Ordnung, Grace?«
Ob alles in Ordnung war? Grace mußte sich auf die Zunge beißen, um ein unkontrolliertes Lachen zu unterdrücken. Sie hatte ihr Apartment, ihren Job und ihr Leben zurückgelassen, war vor Männern mit Herzen aus Eisen geflohen und hatte sich in einer völlig anderen Welt wiedergefunden. War alles mit ihr in Ordnung?
Sie sagte: »Mir geht es gut.«
Aryn lächelte.
Grace zwang ihre Zähne, mit dem Klappern aufzuhören. »Nun, das ist mein erster Morgen auf Calavere, und ich habe nicht die geringste Vorstellung, was ich zu tun habe. Was kommt als erstes?«
»Das Bad«, sagte Aryn, und das Wort war Musik in Graces Ohren.
Die Ärztin war immer der Meinung gewesen, daß die Leute im Mittelalter – ob es nun nötig war oder nicht – nur einmal im Jahr badeten. Zwei Bäder in zwei Tagen schienen diese Theorie zu widerlegen. Aufgrund von Aryns Befehl brachten zwei Dienerinnen – dieselben jungen Frauen in den taubengrauen Kleidern, die Grace schon gestern gesehen hatte – eine Holzwanne und Eimer voll dampfenden Wassers herein. Ihr entging nicht, daß die Dienerinnen weniger ängstlich als am Vortag erschienen. Andererseits war sie gestern halb erfroren an den Grenzen eines geheimnisvollen Waldes gefunden worden, gekleidet in – zumindest für hiesige Verhältnisse – seltsamen Kleidern. Vermutlich fiel es schwerer, eine zitternde knochige Frau in einem Wams für eine Feenkönigin zu halten.
Aryn und die Dienerinnen zogen sich aus dem Raum zurück, und Grace weichte in dem wunderbar heißen Wasser ein, bis sich ihre Muskeln einer nach dem anderen entspannten. Doch schließlich wurde es in der Wanne kühler, und sie wußte, daß sie es nicht länger herauszögern konnte.
Es war wieder Zeit, sich den Gewändern zu stellen.
Sie trocknete sich ab, schlüpfte in das einfache Leinenunterhemd, das Aryn für sie liegengelassen hatte, und betrachtete dann das dunkelpurpurfarbene Gewand, das die Baronesse ausgewählt hatte. Aryn hatte behauptet, die Farbe böte einen hübschen Kontrast zu Graces grün-goldenen Augen und ihrem aschblonden Haar. Grace konnte sich da nur auf ihr Wort verlassen. Auf der medizinischen Fakultät hatten Mode und Design nicht auf dem Stundenplan gestanden.
Grace streifte sich das Gewand über den Kopf, taumelte unter seinem Gewicht, fand das Gleichgewicht wieder und zog es so gut zurecht, wie sie konnte. An der
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