Die letzte Rune 01 - Das Ruinentor
dazugehörigen Schärpe, die als Gürtel diente, befestigte sie den kleinen Lederbeutel, der die halbe Silbermünze und Hadrian Farrs Visitenkarte enthielt. Nach kurzem Überlegen verstaute sie auch ihre Kette in dem Beutel, denn bei dem tiefen Ausschnitt schien der Anhänger zu groß und zu schwer zusein. Zumindest redete sie sich das ein, aber sie hatte nicht die Art und Weise vergessen, auf die sich Detective Janson zu ihr rübergebeugt hatte, um die Kette mit brennendem Interesse in seinen kleinen, bösartigen Augen näher zu betrachten.
Aryn trat nach einem leisen Klopfen wieder ein. Es war ein Zeichen ihrer adligen Herkunft, daß sie nicht laut losprustete, sondern lediglich die blauen Augen weit aufriß. »Ein guter Anfang«, sagte die Baronesse, »aber arbeiten wir noch etwas dran.«
Zuerst hatte alles Ähnlichkeit mit einer kleinen Rangelei, aber nachdem Aryn Grace bat, einfach stillzustehen und jede Gegenwehr einzustellen, schritten die Dinge schneller voran. Aryn richtete das Gewand mit geschickten Fingern, und sobald es richtig saß, fand Grace, daß es weder so schwer noch so beengend wie gedacht war. Es gab zwar einen Trick, wie man in dem Ding gehen mußte, und jedes Hinsetzen war ein Kunststück, aber nach ein paar Ratschlägen Aryns kam Grace zu dem Schluß, daß es nicht ganz hoffnungslos war. Tatsächlich machte es fast schon Spaß, das weiche Material um sie herum rauschen zu fühlen.
»Das machst du sehr gut, Grace«, sagte Aryn.
Grace lächelte als Antwort und drehte sich im Kreis. Das Lächeln verwandelte sich in eine Grimasse, als sie über ein Stück Stoff stolperte und in einen Stuhl fiel.
Die Baronesse zuckte zusammen. »Aber werde nicht übermütig.«
»Danke für den Rat.«
Aryn half ihr aus dem Stuhl heraus, und sie machten sich über das Frühstück aus braunem Brot, weichem Käse und getrockneten Früchten her. Die Baronesse benutzte die Mahlzeit als Gelegenheit zum Unterricht. Hier in Calavan zahlte das einfache Volk seinem Lehnsherrn einen Zehnten Lebensmittel und andere Güter im Tausch für Schutz und Gerechtigkeit – wie in allen anderen Domänen auch. Zusätzlich zu seinem Amt als König war Boreas auch Baron und damit Besitzer mehrerer Herzogtümer; so besaß er eigene Lehnsgüter, aus denen Lebensmittel, Wolle, Eisen und die anderen Güter kamen, die für den Erhalt Calaveres erforderlich waren.
Grace nahm ein Stück Brot. »Das alles scheint eine schrecklich komplizierte Methode zu sein, um ein Frühstück zu bekommen.«
»Und wie beschafft man sich Essen und Schutz in deinem Land?«
Grace kaute das Brot und dachte nach. »Nun ja, einfach gesprochen, kaufen wir Essen in einem Laden ein. Und wir bezahlen Polizisten, um uns zu beschützen.«
Aryns Erwiderung war höflich, aber es war ihr deutlich anzusehen, daß sie dieses Arrangement für minderwertig hielt. »Ich verstehe. Märkte und Söldner. Wie ich hörte, sind in den Freien Städten des Südens die Dinge ähnlich. Vielleicht kommst du ja dort her?«
Grace schwieg betreten. Wie konnte sie Aryn die Wahrheit über den Ort erzählen, von dem sie kam? Die Leute hier hatten sich schon genug gefürchtet, als sie sie für eine Feenkönigin hielten. Was würden sie denken, wenn sie wußten, daß sie aus einer anderen Welt kam?
»Es tut mir so leid, Grace!« Aryns Stimme bebte vor Sorge. »Es geht mich nichts an, wo du herkommst. Kannst du mir verzeihen?«
Grace zwang sich zu einem Lächeln und fand heraus, daß das gar nicht so schwer fiel. »Da gibt es nichts zu verzeihen.«
Den ganzen restlichen und die darauffolgenden Tage nahm Graces Unterricht seinen Fortgang. In gewisser Weise war es, als ginge sie wieder zur Schule. Obwohl selbst das Medizinstudium – trotz Graces Begeisterung für das Sezieren und die Untersuchungen – nicht so interessant gewesen war. Die meiste Zeit verbrachten sie in ihrem Gemach, und sie saß am Kamin und blickte in die Flammen, während Aryn ihren Unterricht abhielt. Die Baronesse trank Gewürzwein, während Grace dampfende Tassen Maddok vorzog. Sie hatte diese erstaunliche Substanz eines Morgens entdeckt, als man einen Tontopf voll versehentlich auf ihrem Frühstückstablett stehenließ. Anscheinend erachtete man Maddok als vulgäres Getränk, lediglich für Bauern geeignet, während die Adligen Wein vorzogen. Doch nach ihrer ersten Tasse war es Grace egal, was man von ihr hielt, wenn sie ihn trank. In vielerlei Hinsicht erinnerte Maddok sie an den Kaffee im Aufenthaltsraum der
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