Die letzte Rune 01 - Das Ruinentor
Assistenzärzte daheim im Denver Memorial – dick, schwarz und belebend, nur daß der batteriesäureähnliche Nachgeschmack und das mit ihm verbundene nervöse Zittern fehlte. Es war guter Stoff.
Mit jedem verstreichenden Tag freute sich Grace mehr auf Aryns Besuch. Es dauerte nicht lange, und die Baronesse fand Grace bei ihrem Eintreffen bereits aufgestanden und angekleidet vor. Darüber hinaus war Aryn nur die ersten paar Male gezwungen gewesen, Graces hoffnungslos verheddertes Gewand zu richten. Danach schaffte es Grace selbst beziehungsweise mit etwas geringfügigem Zurechtrücken von einer der Dienerinnen. Als sie es das erste Mal schaffte, eines der Gewänder ohne jede fremde Hilfe anzuziehen, strahlte sie triumphierend. Es war erstaunlich, was für ein Gefühl der Unabhängigkeit es einem doch gab, wenn man fähig war, sich selbst anzukleiden.
Wie sich herausstellte, war Aryn eine gute Lehrerin.
Die Baronesse war intelligent und erklärte Dinge auf anschauliche Weise, und obwohl sie geduldig war, verlangte sie ihrer Schülerin einiges ab. Grace begann sich ein zwar alles andere als perfektes, aber immerhin doch brauchbares Bild von dieser Welt zu machen – oder zumindest von dem Teil der Welt, in dem sie sich wiedergefunden hatte. Sie hörte aufmerksam zu, als Aryn von der Geschichte der Domänen und von viel älteren König- und Kaiserreichen sprach. Und sie lernte auch etwas über die Geographie, als die Baronesse eines Nachmittags mit einem aus dem Kamin stibitzten Stück Holzkohle auf aus Schafshaut hergestelltem und gestrecktem Pergament Karten zeichnete. Es war faszinierend, doch Aryns Wissen über das Land nahm mit wachsender Entfernung von Calavan immer unbestimmtere Züge an, ganz wie es Grace von einer Welt ohne Automobile und Satelliten erwartet hatte.
Von allen Unterrichtsthemen schätzte Grace Politik am wenigsten, und genau damit verbrachten sie die meiste Zeit. Falls Grace als Beobachterin der kommenden Ratsversammlung überhaupt von Nutzen sein sollte, war es laut Aryn von entscheidender Bedeutung, daß sie alle daran beteiligten Spieler gründlich kannte.
»Und der Herrscher von Brelegond ist?«
Die Baronesse schritt mit ernstem Gesichtsausdruck vor dem Feuer auf und ab, die linke Hand auf die schlanke Hüfte aufgestützt. Sie fragte die auf einem Schemel sitzende Grace ab, um zu testen, ob ihre Schülerin auch aufgepaßt hatte.
Grace dachte eine Minute lang nach. »König Lysandir.«
Aryn nickte. »Gut. Und jetzt sag mir den Sitz von Königin Ivalaine von Toloria.«
Das war leicht. Die Namen ähnelten alle einander. »Ar-To-lor«, sagte Grace, ohne nachzudenken.
Die Baronesse ließ Grace keine Verschnaufpause. »Und Galts Hauptexportartikel ist?«
Grace zermarterte sich das Hirn, fand die nötige Antwort aber nicht. Ihre Stirn war schweißbedeckt. Das hier war schlimmer als die Abschlußprüfung in Anatomie im ersten Jahr des Medizinstudiums. »Felsen?« sagte sie hoffnungsvoll.
Aryn seufzte. »Fast. Der Hauptexportartikel von Galt ist Ziegenwolle.«
Graces Lippen verzogen sich zu einem trockenen Lächeln. »Das hätte ich mir denken können. Bei all den Felsen muß es da eine Menge Ziegen geben.« Sie blickte zu Aryn hoch. »Also habe ich nicht bestanden, oder?«
Die junge Baronesse zögerte und schüttelte dann den Kopf. »Aber du warst ganz nahe dran, Grace.«
Nur Aryn konnte einen Fehlschlag wie eine Leistung klingen lassen. »Ich weiß nicht, wie du das alles behältst«, sagte Grace. »Du bist erstaunlich.«
Die Baronesse wandte sich ab, ihre schmalen Schultern senkten sich. »Das ist wirklich nichts Besonderes. Es ist die Aufgabe eines Adligen, solche Dinge zu wissen, das ist auch schon alles. Es schickt sich für uns, mit unseren Verbündeten und Rivalen vertraut zu sein. Und ich weiß nur einen kleinen Teil von dem, was Lord Alerain weiß. Man sagt, der Seneschall des Königs erkennt jeden Adligen der Domänen, einschließlich des geringsten Grafen, sofort auf den ersten Blick.«
»Mich hat er nicht erkannt«, sagte Grace leise.
Ihre Worte überraschten sie selbst, sie hatte nicht beabsichtigt, sie laut auszusprechen. Aryn drehte sich mit nachdenklichem Gesichtsausdruck um, aber Grace konnte nicht ergründen, was sie dachte.
»Ich glaube, es ist längst Zeit für eine Pause«, war alles, was die Baronesse sagte.
46
Grace verbrachte nicht alle Stunden mit Lernen in dem kleinen Gemach, denn Aryn hatte außer ihrer Ausbildung noch andere Pflichten zu erfüllen.
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