Die letzte Rune 01 - Das Ruinentor
weiter, und bald hatte sie mit fast allen Repräsentanten der anderen sechs Domänen gesprochen. Es war nicht nötig, sie zu suchen. Sie schienen sie von allein zu finden. Und jeder schien Olstin von Brelegonds Befürchtungen zu teilen, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß: Sie alle fragten sich, welche Motive wirklich hinter Boreas' Einberufung des Rats der Könige steckten.
Doch einen Adligen konnte Grace nicht entdecken, obwohl sie verstärkt nach ihm Ausschau hielt.
Eine Fanfare ertönte und signalisierte den Beginn des Banketts. Sofort nahmen die Anwesenden ihre Plätze an den Tischen ein. Unsicher, was genau von ihr erwartet wurde, setzte sich Grace auf die nächstbeste Bank.
Das war eine Strategie, die sie etwas gründlicher hätte durchdenken sollen.
»Ihr könnt mein Brot jederzeit buttern, Mylady, wenn Ihr wißt, was ich meine«, sagte der Adlige, der links von ihr saß, mit einem eindeutigen Zwinkern. Er war ein ergrauter Mann mit dünnem Haar und noch weniger Zähnen als Fingern, die nicht mehr auf die Zahl zehn kamen. Sein Wams war voller Fettflecken, und ein übler Geruch ging von ihm aus.
Früher am Tag hatte Aryn ihr zur Vorbereitung auf das Bankett einen Crashkurs in Tischmanieren gegeben. Für gewöhnlich teilten sich zwei Leute einen Weinpokal. Man benutzte nicht das Tischtuch, um sich die Nase zu putzen. Und es wurde von einer Lady erwartet, für den Herrn zu ihrer Linken das Salz zu streuen. Jedoch war in der Lektion keine Rede davon gewesen, Brot zu buttern oder eindeutige Bemerkungen ertragen zu müssen.
Sie griff nach dem Pokal. »Wißt Ihr«, schlug sie einen Moment später vor, »wir könnten vermutlich viel einfacher trinken, wenn wir es nacheinander versuchten.«
»Ah, aber das würde nicht soviel Spaß machen.« Er verstärkte den dreifingerigen Griff um ihre Hand, so daß sie den Pokal nicht loslassen konnte.
Besorgnis stieg in ihr auf. Zum ersten Mal an diesem Abend hatte sie das Gefühl, wirklich in Gefahr zu sein. Er hob den Pokal an.
»Kommt schon, Mylady, laßt uns zusammen trinken und …«
Seine Augen quollen hervor und wurden starr, dann rutschte er unter den Tisch.
»Er muß dort unten etwas verloren haben«, sagte eine finstere Stimme.
Grace blickte auf und verspürte eine Woge der Erleichterung. »Durge!«
Der embarranische Ritter hatte sein Kettenhemd gegen ein rauchgraues Wams eingetauscht, aber sie hätte den schwarzen Sichelbart und die schwermütigen braunen Augen überall erkannt.
Durge verbeugte sich ernst. »Mylady, ich glaube, Eure Anwesenheit wird am Tisch des Königs gewünscht.«
Er streckte ihr die Hand entgegen, und sie akzeptierte anmutig. Ihr war unklar, was genau der Ritter mit ihrem Tischnachbarn gemacht hatte, aber sie war froh, Lord Siebenfinger unter dem Tisch zurücklassen zu können.
»Das ist schon das zweite Mal, daß Ihr mich gerettet habt«, sagte Grace.
»Ich fürchte, ich habe nicht mitgezählt.«
Sie gingen zu der langen Tafel, die am Ende des Großen Saales erhöht auf dem Podium stand. Dort saßen Logren, Olstin und all die anderen Seneschalle und Berater sowie Aryn und Alerain. Grace hätte gern neben der Baronesse gesessen, aber die Plätze rechts und links neben ihr waren besetzt. Olstin beugte sich vor, um Aryn etwas ins Ohr zu flüstern, und sie sah gequält geradeaus. Grace verspürte einen Stich des Mitleids, aber es gab nichts, was sie hätte tun können.
Durge führte sie zu den letzten beiden freien Stühlen am Ende der Tafel. »Bestimmt würdet Ihr eine bessere Gesellschaft als mich bei Tische vorziehen, aber ich fürchte, dies sind die letzten freien Plätze.«
»Ganz im Gegenteil«, erwiderte Grace und setzte sich. »Ich würde nirgendwo lieber sitzen.«
Durge hob überrascht eine Augenbraue, konnte aber nichts tun, außer sich zu setzen. Pagen brachten Platten mit Fleisch, und das Aroma ließ Graces Magen knurren. Sie brach das harte Tellerbrot, das zwischen ihr und Durge lag, in zwei Teile – wie Aryn es ihr gesagt hatte –, legte ein paar Stücke Fleisch auf ihre Hälfte und häufte eine wesentlich größere Portion auf die des Ritters.
Durge bedankte sich mit einem Nicken. »Ich nehme an, Ihr genießt Euren Aufenthalt auf Calavere, Mylady?«
»Ja, danke«, erwiderte sie und erkannte zu ihrer eigenen Überraschung, daß das der Wahrheit entsprach. Trotz der bizarren Situation und ihrer Angst, so viele ihr unbekannte Personen kennenlernen zu müssen und nicht zu wissen, wie sie sich zu verhalten
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