Die letzte Rune 01 - Das Ruinentor
blieben hier und da stehen, um Konversation zu betreiben. Grace war auf eine seltsame Weise beruhigt. Abgesehen von den antiquierten Kostümen und den Steinwänden unterschied sich die Veranstaltung kaum von der jährlichen Weihnachtsparty im Denver Memorial, und von denen hatte sie genug überstanden. Außerdem konnten mittelalterliche Adlige kaum arroganter als das Krankenhausmanagement sein und auch kaum mehr Intrigen spinnen.
Sie hatte recht. In dem Augenblick, in dem sie ihren Rundgang durch den Saal wiederaufnahm, wußte sie mit absoluter Sicherheit, daß Morty Underwood perfekt hierhergepaßt hätte – er hätte bloß ein Wams und einen gefiederten Hut gebraucht. Was sie allerdings vergessen hatte, war die Tatsache, daß sie im Denver Memorial Hospital nur eine kleine Assistenzärztin gewesen war. Hier war sie Grace, die Herzogin von Beckett. Im Handumdrehen hatte man sie in die Ecke getrieben.
»Guten Abend, Euer Durchlaucht.« Das kam von einer ernst blickenden Frau in einem roten Gewand. Die dicke Puderschicht konnte die Pockennarben, die ihre Wangen entstellten, nicht verbergen. Aller Wahrscheinlichkeit nach war sie eine Gräfin. »Wie ich sehe, zieht Ihr es vor, als letzte zu kommen, damit alle anderen Zeugen Eurer Ankunft sind. Eine interessante Entscheidung.«
Grace schüttelte den Kopf. »Das war keine Entscheidung, Mylady. Der Page kam nur sehr spät, um mich abzuholen.«
Die Augen der Gräfin funkelten wie harte Kiesel. »Tatsächlich?«
»Entschuldigt, Euer Durchlaucht«, sagte ein junger Adliger.
Grace kam anhand seiner guten, jedoch relativ unspektakulären Garderobe zu dem Schluß, daß es sich bei ihm um einen niederen Adligen handelte.
»Darf ich einen der Diener veranlassen, Euch etwas zu trinken zu bringen? Ich nehme an, Eure Reise nach Calavere war sehr lang.« Ein durchtriebenes Funkeln stahl sich in seinen Blick. »Oder war sie gar nicht so lange? Laßt mich raten, die Straße, die Ihr von Beckett aus genommen habt, ist die …«
»Ich fürchte, ich bin nicht auf der Straße gereist«, erwiderte sie.
Der junge Adlige tat so, als hätte sie ihn geschlagen, und verschwand mit eingezogenem Kopf. Anscheinend hatte er ihr Getränk vergessen. Grace tat es leid. Sie hätte es gebrauchen können.
Mehrere andere Adlige drängten sich nach vorn, um seinen Platz einzunehmen. Boreas hatte recht gehabt. Allein ihre Anwesenheit reichte schon aus, um die Herren und Damen zum Sprechen zu bringen. Ihre Fragen erschienen alle höflich und völlig harmlos, aber es war offensichtlich, daß alle herausfinden wollten, wer sie war, wo sie herkam und was sie im Schilde führte.
Ein kleiner Mann in einem protzigen blutroten und goldenen Wams näherte sich, und nach der Art und Weise zu urteilen, wie die anderen ihm Platz machten, nahm er eine höhere Stellung ein. Er deutete eine halbe Verbeugung in Graces Richtung an. Es war zweifelhaft, ob der beträchtlich erweiterte Taillenumfang auch mehr erlaubt hätte.
»Ich bin Lord Olstin.«
Er sprach es aus, als hätte Grace sofort zu wissen, wer er war, und nach kurzem Nachdenken wurde ihr klar, daß sie es tatsächlich wußte. Aryn hatte ihr die Namen und Ränge der verschiedenen Repräsentanten der Könige und Königinnen aufgezählt, die am Rat teilnehmen würden. Olstin war der Seneschall von König Lysandir von Brelegond.
»Mylord«, sagte Grace.
Olstin fuchtelte mit dem leeren Pokal in seiner Hand herum. Seine dicken Finger waren mit Ringen übersät. »König Boreas hat uns nichts davon gesagt, daß er während der Ratsversammlung noch andere ehrenwerte Gäste beherbergt.« Seine Stimme hob sich, damit ihn alle Umstehenden auch hören konnten. »Ich frage mich, was er uns wohl sonst noch vergessen hat zu sagen?«
Die Umstehenden schauten interessiert zu.
Grace sagte: »Davon weiß ich nichts.«
Olstins runde Augen glänzten. Mit der freien Hand strich er sich den kurzen Bart, der seine Wangen bedeckte. »Ist das Euer Standpunkt zu dieser Angelegenheit, Mylady?«
»Das ist kein Standpunkt, Mylord. Das ist einfach nur die Wahrheit.«
Ein allgemeines Murmeln kam auf, als hätte sie gerade eine bissige Beleidigung von sich gegeben. Grace widerstand dem Drang, laut aufzustöhnen. Konnte sie denn hier gar nichts sagen?
Olstin wollte etwas erwidern, aber Grace kam ihm zuvor. »Mylord, wenn Ihr mich bitte entschuldigt. Ich möchte Euch nicht von Eurer dringenden Verabredung mit dem nächsten Pokal Wein abhalten.«
Olstin klappte das Kinn
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