Die letzte Rune 01 - Das Ruinentor
keiner wußte, wo sie war. Sie war sich bereits schon nicht mehr sicher, wie oft sie abgebogen war – viermal links und zweimal rechts, nicht wahr? Oder war es genau andersherum? –, und hatte nicht die geringste Vorstellung, in welcher Richtung der Eingang lag. Es gab auch nicht die geringste Möglichkeit zum Schummeln, indem man einfach durch die Wände des Irrgartens hindurchging. Die Hecken waren über drei Meter hoch und bestanden aus dichten, dornenbewachsenen Zweigen. Wenn sie versuchte, sich da einen Weg hindurch zu erzwingen, würde sie zerfetzt sein, noch bevor sie auch nur einen halben Meter zurückgelegt hatte.
Komm schon, Grace, denk nach. Du bist Ärztin und eine ausgebildete Wissenschaftlerin. Du wirst doch wohl ein von einem mittelalterlichen Gärtner geschaffenes Rätsel entschlüsseln können!
Sie biß die Zähne zusammen und begab sich tiefer in das Labyrinth.
Dann entwickelte sich langsam ein Muster. Ja, das war es: zwei Abzweigungen nach links, dann eine nach rechts. Jedesmal nach dieser Reihenfolge fand sie sich in einem neuen Abschnitt wieder, der – und da war sie sich fast sicher – auf das Herz des Labyrinths zuführte. Sie hob den Saum ihres Gewandes von dem feuchten Boden und beschleunigte ihre Schritte, denn sie mußte ganz in der Nähe des Mittelpunkts sein. Links. Noch mal links. Dann rechts. Und …
Eine Sackgasse.
Grace starrte die dornige Wand an. Das hatte sie nicht erwartet. Sie senkte den Kopf und ging in Gedanken den Weg noch einmal. Hatte sie irgendwo einen Fehltritt getan? Nein, sie war genau ihrer Formel gefolgt. Also ergab sich nur ein logischer Schluß. Das Muster, das sie entdeckt zu haben glaubte, war in Wirklichkeit gar kein Muster. Was bedeutete …
»Ich habe mich verirrt«, flüsterte sie.
Ihr Atem verwandelte sich in der Luft in Dampfwölkchen. Die Anstrengung des Laufes durch das Labyrinth hatte sie in Schweiß ausbrechen lassen, aber jetzt zitterte sie in ihrem Gewand. Sie ging die Sackgasse zurück, bis sie die Kreuzung erreichte. Und jetzt, welche Richtung? Zu diesem Zeitpunkt war eine Richtung so ziemlich wie die andere, und keine würde sie vermutlich bis zur Essenszeit ins Schloß zurückbringen. Würde Aryn sie vermissen? Oder würde die Baronesse dazu zu beschäftigt sein?
Nach links, entschied sie eine Minute später und setzte sich in Bewegung. Sie bog um eine Ecke und schlug plötzlich die Hand vor den Mund.
Dreh dich um, Grace. Dreh dich sofort um!
Aber die Faszination war stärker als die Furcht. Sie blickte um den Rand der Hecke und sah in die kleine, runde, grüne Grotte.
Trotz der Kälte waren sie nackt. Er hatte seinen Umhang auf dem Boden ausgebreitet, und da lagen sie nun, die Glieder ineinander verschlungen wie die Winterwistarien. Ihre Arme lagen um seinen Hals, sie hoben sich weiß wie Elfenbein von seiner olivfarbenen Haut ab. Die schlanken Muskeln seines Rückens und seiner Beine bewegten sich wellenartig, als ihre Hüften in einem langsamen und vertrauten Rhythmus gegeneinanderstießen. Seine Augen waren in ekstatischer Konzentration geschlossen, aber ihre nicht. Sie funkelten wie Smaragde, als sie an seiner Schulter vorbeiblickte. Um ihre Mundwinkel spielte ein zufriedenes Lächeln.
Grace wollte zurückweichen, aber ihre Beine gehorchten ihr nicht. Ihr Verstand war wie betäubt, Aprikosenduft füllte ihre Lungen. Ihre Hand rückte wie aus eigenem Willen von ihrem Mund ab, strich über ihren Hals, dann tiefer über Brüste und Leib …
Als würden die grünen Augen die Anwesenheit einer anderen Person spüren, wandten sie sich in Graces Richtung. Grace erstarrte. Einen Herzschlag lang flackerte in diesen Augen Überraschung auf. Aber nicht länger. Dann kam dort ein neuer Ausdruck zum Vorschein, ein Leuchten, das beinahe billigend war. Die weißen Arme griffen fester zu, und das Lächeln der rosafarbenen Lippen verstärkte sich.
Nein!
Grace schüttelte den Kopf, als würde sie aus einem Zauber erwachen. Sie riß die Hand hoch, ergriff sie mit der anderen und stolperte fort. Ohne einen Blick zurückzuwerfen, drehte sie sich um und lief kopfüber in das Labyrinth hinein. Der Laut amüsierten Gelächters folgte ihr.
Sie sperrte den Laut aus ihrem Verstand aus und lief weiter.
57
Am nächsten Morgen stieß Aryn die Tür zu Graces Gemach auf und stürmte herein. Ihre großen blauen Augen funkelten vor Aufregung.
»Sie kommt!« rief die Baronesse aus.
Grace stand von ihrem Fenstersitz auf, und ihr Herz klopfte wie
Weitere Kostenlose Bücher