Die letzte Rune 01 - Das Ruinentor
Lehnsherren beschäftigt, um Zeit für ein Plauderstündchen zu haben, was bedeutete, daß sie tatsächlich sehr beschäftigt waren. Einmal begegnete ihr Logren auf dem Korridor. Er drückte eine Hand auf die Brust und machte eine fließende Verbeugung, aber er blieb nicht stehen, um mit ihr zu sprechen. Sogar Gräfin Kyrene war seltsamerweise unauffindbar.
Sich selbst überlassen hatte Grace versucht, sich mit der Erforschung des Schlosses zu beschäftigen. Aber jeder Korridor schien schließlich entweder zum Abort oder zur Küche zu führen, und sie gewann bald den Eindruck, daß das in der Tat die beiden wichtigsten Orte auf Calavere waren; der Große Saal landete abgeschlagen auf dem dritten Platz.
An dem besagten zehnten Tag im Schloß blickte Grace aus dem kleinen Fenster ihres Gemachs und kam sich wie eine Gefangene vor.
Von diesem Standort konnte sie gerade noch die Spitzen der beiden Türme sehen, die das Haupttor des Schlosses flankierten. Ihr fielen wieder die Bauern ein, die sie in beide Richtungen durch das Tor hatte strömen sehen, an dem verschneiten Tag, als Durge sie nach Calavere gebracht hatte. Es war zwar eine Ironie, aber in diesem Augenblick beneidete sie die Bauern. Ja, es waren unterdrückte Leibeigene – das überarbeitete, ungebildete und unterernährte Eigentum eines launenhaften Feudalsystems. Aber wenigstens konnten sie das Schloß verlassen, wenn sie wollten.
Grace seufzte resigniert. Da gab es einen kleinen Seitenkorridor, den sie neulich neben dem Großen Saal entdeckt hatte. Vielleicht bestand ja die Möglichkeit, daß er woanders hinführte als zur Küche oder zum Abort. Sie war es leid, die geschwollenen Worte in Aryns Büchern zu lesen. Eine Entdeckungsreise würde ihr wenigstens etwas zu tun geben. Entschlossen wandte sie sich vom Fenster ab.
Ein smaragdgrünes Aufblitzen draußen auf dem Hof ließ sie innehalten.
Sie trat näher an das fehlerbehaftete Glas und blickte hinunter. Da. Sie konnte das Gesicht der Dame nicht erkennen, aber das glänzende goldene Haar und das grüne Gewand waren unverkennbar. Lady Kyrene. Die Gräfin ging neben einer anderen Gestalt über den Oberen Burghof, die größer, breiter und in Perlgrau gekleidet war. Grace erkannte die kostbare Kleidung, das glatte Haar, das an den Schläfen stahlgrau geworden war. Logren, der Erste Berater von Königin Eminda von Eredane. Die beiden steckten die Köpfe zusammen, als unterhielten sie sich. Grace verspürte eine Beklemmung in der Brust. Logren war ihr eigentlich nicht als der Typ Mann erschienen, der sich in Kyrenes Netz aus Intrigen und Anzüglichkeiten verstricken ließ. Worüber konnten sich die beiden wohl unterhalten?
Das seltsame Paar näherte sich dem Eingang des Heckenlabyrinths in der Mitte des Burghofs. Sie verharrten kurz – blickte sich Logren tatsächlich um? –, dann schlüpften sie durch den Torbogen aus blätterlosen, ineinander verschlungenen Wistarien und verschwanden im Labyrinth.
Grace biß sich auf die Lippe. Sie wußte von Aryn, daß man in dieser Welt die Erlaubnis des Gastgebers brauchte, bevor man sein Haus verlassen konnte. Sie sollte Boreas oder zumindest Alerain fragen. Aber ein Spaziergang im Hof bedeutete eigentlich nicht dasselbe, als würde man Calavere verlassen. Bevor sie sich überlegt hatte, was sie tat, eilte sie auch schon aus ihrem Gemach.
Draußen war es kälter als gedacht.
Sie hatte keinen Mantel, auch kein wollenes Cape von der Art, das sie Kyrene hatte tragen sehen, und der Wind schnitt direkt durch ihr Gewand. Die Seitentür schloß sich hinter ihr – es war ein Dienstboteneingang, kaum benutzt und außer Sicht des Bergfrieds, was der Grund dafür war, daß sie ihn benutzt hatte. Die Zeit, die sie mit der Erkundung des Schlosses verbracht hatte, war also doch nicht verschwendet gewesen. Sie verschränkte die Arme über der Brust und eilte über die Pflastersteine des Oberen Burghofs auf die verfilzte Mauer des Heckenlabyrinths zu.
Als sie den Torbogen aus verwelkten Schlingpflanzen erreichte, der den Eingang formte, blieb sie stehen und warf einen Blick über die Schulter. Auf dem Oberen Burghof hielt sich nur ein Knappe auf, der ein Pferd zum Königlichen Stall führte, und der sah nicht in ihre Richtung. Sie holte tief Luft, nahm die Schultern zurück und stürzte sich ins Labyrinth, bevor sie es sich anders überlegen konnte.
Ein paar Dutzend Schritte später kam Grace der Gedanke, daß es vielleicht doch keine so gute Idee gewesen war, daß
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