Die letzte Rune 01 - Das Ruinentor
Kind blickte sich mit großen Augen um, einen staunenden Ausdruck auf dem schmutzigen Engelsgesicht.
Travis hatte das Gefühl, Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, also suchte er sich einen Platz und setzte sich. Er hob den Kopf, und da sah er ihn.
Den Mann in Schwarz.
Oder Bruder Cy, denn das war mit Sicherheit sein Name, so wie dies hier mit Sicherheit seine reisende Erlösungsshow war. Der Prediger, der noch immer den schwarzen Beerdigungsanzug trug, tigerte über die Bühne, die sich gegenüber den Bänken befand, und blieb nur gelegentlich stehen, um mit einer knochigen Faust auf ein Pult zu schlagen, das so aussah, als hätte es in seiner letzten Inkarnation als Tränke für Schlachtvieh gedient. Er hatte den breitkrempigen Pastorenhut abgenommen und einen Schädel enthüllt, der der Traum eines Phrenologen gewesen wäre. Überrascht wurde Travis klar, daß die durchdringende Musik, die er in der verqualmten Luft hatte auf- und abschwellen hören, nichts anderes als Bruder Cys prächtige, schreckliche, honigsüße und knirschende Stimme war, die einen Sturm heraufbeschwor.
»… und ihr, meine Freunde, die ihr euch in eure bequemen Reihenhäuser zurückzieht«, donnerte Bruder Cy mit genausoviel fliegender Spucke wie Lautstärke, »die ihr euch vor allem Übel beschützt glaubt, euch auf euren Sesseln mit verstellbarer Rückenlehne suhlt, euren Sechserpack Bier trinkt und euch vor dem Fernsehaltar niederwerft. Auf euch wartet eine Überraschung, meine Freunde.« Das Pult erbebte unter seiner Faust, und seine Augenbrauen sträubten sich wie zwei schwarze Tausendfüßler. »Denn egal, ob ihr in einem Herrenhaus oben auf dem Hügel wohnt oder einem Bretterverschlag am Flußufer, es wird euch so oder so mühelos finden und an eure Tür klopfen. Denn ich sage es euch wieder – eine Finsternis wird kommen!«
»Amen!« sagten ein paar vereinzelte Stimmen, und es war sogar ein leises »Halleluja!« zu hören. Bruder Cy grinste, und in den dunklen Tiefen seiner Augen loderte ein Feuer hell auf, als wäre die Zustimmung aus tausend Kehlen erschollen. Aber er war noch nicht fertig.
»Diese Finsternis, sie kriecht jeden Tag näher heran, jede Stunde, jede Minute. Aber hat auch nur einer von euch sie kommen sehen? Habt ihr gefühlt, wie sie wie ein Schatten auf eure Seele fällt?« Er schüttelte den Kopf, vielleicht aus Mitleid, vielleicht auch nur angewidert. »Nein, das habt ihr nicht! Ihr habt eure Blicke nach innen gewandt, ihr habt eure Ohren verschlossen, und ihr habt euch mit dem nichtssagenden Trost eurer materiellen Besitztümer betäubt.« Er hob beide Arme, und seine Stimme schwang sich zu einem Crescendo auf. »Ich frage euch, ist unter euch nicht wenigstens einer, der es gewagt hat, in das Herz der näher kommenden Finsternis zu blicken?«
Zwei Dutzend Gesichter starrten Bruder Cy gebannt und furchtsam an. Dann stieg eine zitternde Stimme in die verqualmte Luft auf.
»Ich … ich habe es getan.«
Es war die junge Frau, die das Kind hielt.
Bruder Cy blickte einen langen Moment auf sie herunter; es war, als würde er mit diesen schwarzen Murmeln von Augen über sie richten. Dann trat er von der Bühne herunter und kam mit seinem ruckartigen Schritt auf sie zu. Er legte eine lange Hand unter ihr zerbrechlich aussehendes Kinn und hob es an, bis sich ihr Blick in dem seinen verlor.
»Das hast du, mein Kind«, sagte er geheimnisvoll. »Das hast du.« Sie verharrten einen langen Augenblick in dieser Position, als würden sie eine Unterhaltung führen, die von anderen Ohren nicht wahrgenommen werden konnte. Dann sprang er zurück auf die Bühne und hämmerte auf das Pult ein, bis es sich an den Seiten durchbog.
»Schämt ihr euch nicht?« rief er. »Hier sitzt jemand mit einem kleinen Kind vor euch, der selbst fast noch ein Kind ist, bedauernswert und voller Furcht. Und doch hat sie die Kraft gefunden, das zu tun, was der Rest von euch nicht getan hat, den Blick zu heben und in das Innere des Schattens zu sehen!«
Die Zuschauer rutschten auf den harten Bänken herum.
»Ja«, sagte Bruder Cy, »jetzt erkenne ich die Wahrheit. Heute abend sind Ungläubige unter uns, nicht wahr? Ihr wißt schon, wer gemeint ist.« Er streckte den skeletthaften Finger aus und ließ ihn über die Zuschauer wandern. Als der anklagende Finger in Travis' Richtung zeigte, schien er zu verharren. Travis bewegte sich voller Unbehagen; er fühlte sich nackt. Dann setzte sich Bruder Cys Finger wieder in Bewegung.
»Anscheinend
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